Blauer Montag
zusammengerollten Paar Socken obenauf. Das anatomisch korrekte Skelett, das er seit seinem ersten Studienjahr besaß, stand – behängt mit blinkendem Christbaumschmuck – mitten im Raum. Auf seinem Schädel türmten sich mehrere Hüte, und von seinen langen Fingern hing ein Spitzenslip. Rasch fegte Jack die Zeitschriften vom Tisch und griff nach einem auf dem Sofa liegenden Mantel, um sie damit zu bedecken. Wäre Frieda seine Therapeutin gewesen, hätte er ihr von dem Chaos erzählen können, in dem er hauste und das auch ihm selbst ein wenig das Gefühl gab, sein Leben nicht ganz unter Kontrolle zu haben. Wäre er derjenige gewesen, der besagte Zeitschriften las (was nicht der Fall war, auch wenn er hin und wieder einen verstohlenen Blick darauf warf), hätte er auch darüber mit ihr sprechen und ihr erklären können, dass er sich vorkam, als befände er sich in einer Art Schwebezustand zwischen seinem alten Studentenleben und jener Erwachsenenwelt, die er immer nur mit anderen in Verbindung brachte, aber nie mit sich selbst. Er wäre also durchaus in der Lage gewesen, ihr das Durcheinander in seiner Seele zu beschreiben. Er wollte nur nicht, dass sie es mit eigenen Augen sah.
»Setz dich doch. Entschuldige, lass mich das wegräumen.« Er nahm den Laptop und die Ketchupflasche vom Stuhl. »Das ist nur eine Übergangslösung«, bemerkte er. »Ein paar von meinen Mitbewohnern sind ein bisschen unordentlich.«
»Ich habe auch mal studiert«, antwortete Frieda.
»Wir sind aber keine Studenten mehr«, gab Jack zu bedenken. »Ich bin Arzt, oder zumindest etwas Ähnliches, und Greta ist Buchhalterin, auch wenn es nicht danach aussieht.«
»Du hast die Frau gefunden«, kam Frieda auf ihr eigentliches Thema zu sprechen.
»Ja.« Jacks Miene hellte sich auf. »Kaum zu glauben, oder?
Ich hatte schon fast aufgegeben, da sah ich sie plötzlich. Wobei mich ihr Aussehen ehrlich gesagt ein bisschen irritiert hat. Eigentlich ergibt das alles gar keinen rechten Sinn – einerseits war sie die Frau, von der Alan dir erzählt hat, aber … na ja, andererseits war sie es auch wieder nicht. Nicht wirklich.«
»Von Anfang an«, befahl Frieda.
Jack erzählte ihr in allen Einzelheiten, was er erlebt hatte. Während er sein Gespräch mit der Frau so wörtlich wiedergab, wie er nur konnte, hörte Frieda ihm konzentriert zu. Als er fertig war, schwiegen sie beide eine Weile.
»Und?«, fragte Jack schließlich.
Die Tür ging auf, und ein Gesicht lugte herein. Bei Friedas Anblick zog es sich anzüglich grinsend wieder zurück. Jack wurde bis unter die Haarwurzeln rot.
»Sie hat ihn Drecksack genannt?«, hakte Frieda nach.
»Ja. Wobei sie allerdings behauptete, sein Name sei Dean.«
»Alles, was Alan gesagt hat, entsprach also der Wahrheit.« Frieda schien jetzt mehr mit sich selbst zu reden als mit Jack. »All die Dinge, von denen er dachte, dass sie möglicherweise nur in seinem Kopf existierten, spielten sich sehr wohl in der realen Welt ab. Er hat sie nicht erfunden. Aber die Frau – die er angeblich noch nie gesehen hatte – kannte ihn.«
»Sie kannte diesen Dean Reeve«, stellte Jack richtig, »zumindest hat sie das behauptet.«
»Warum sollte sie lügen?«
»Ich glaube nicht, dass sie gelogen hat.«
»Sie hat alles, was er gesagt hat, bestätigt – mit dem einzigen Unterschied, dass es sich ihr zufolge um jemand anderen handelte.«
»Hm.«
»Lügt er uns an? Und wenn ja, weswegen?«
»Sie war nicht die glamouröse Frau, mit der ich gerechnet hatte«, erklärte Jack. Es war ihm peinlich, über Heidi zu reden, aber er wollte Frieda wissen lassen, wie er sich gefühlt hatte,
als er in dem stickigen, unangenehm süßlich riechenden Raum stand und versuchte, nicht an all die Männer zu denken, die schon die schmale Treppe zu ihr hinaufgestiegen waren. Er erinnerte sich an die roten Flecken in Heidis Augen, wobei ihm leicht übel wurde, als wäre das seine Schuld.
»Ein paar ehemalige Kollegen von mir kümmern sich um Prostituierte«, brach Frieda das Schweigen. Dabei sah sie Jack an, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Die meisten von ihnen sind suchtkrank, werden misshandelt und haben kein Geld. So ein Leben hat nicht viel Glamouröses.«
»Alan geht also unter dem Namen Dean zu Prostituierten, schafft es dir gegenüber aber nicht, das offen zuzugeben, sondern muss es in diese seltsame Geschichte verpacken, die ihn von jeder Verantwortung entbindet und die Frau weniger wie ein Opfer wirken lässt. So
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