Blaues Gift - Almstädt, E: Blaues Gift
aufmerken.
»Polizei, nehmen Sie die Hände über den Kopf. Ich richte eine Waffe auf Sie!«, rief sie laut über die Lichtung.
Die Situation war äußerst ungünstig. Pia konnte nicht, wie es sinnvoll gewesen wäre, auf Dorotheas Beine zielen, denn genau dort befand sich auch Marlene. Höher zu zielen war riskant, denn jeder abgegebene Schuss konnte für Dorothea Bauer tödlich enden.
In diesem Moment griff Dorothea Bauer in die Tasche und richtete etwas, das wie ein kleiner Revolver aussah, auf die am Boden liegende Marlene.
»Was sagen Sie nun, Frau Korittki? Soll ich Ihre liebe Schwägerin jetzt gleich erschießen? Eigentlich wollte ich ihr vorher noch ein paar Takte sagen, aber zur Not ... Du hast mal wieder Glück, Marlene, mein Tod hat viel länger gedauert.«
»Werfen Sie die Waffe weg, Frau Bauer. Sie haben keine Chance, gleich wird es hier im Wald von Polizei wimmeln. Noch ist nichts geschehen. Werfen Sie die Waffe weg!«
»Hätte Marlene mir den Mann geliefert, dann hätte ich sie vielleicht laufen lassen. Aber so? Wo bleibe ich bei dieser Geschichte? Für mich gibt es keine Zukunft, nur noch diese Rache.«
»Sie täuschen sich. Einen Menschen zu töten ist nie eine Lösung für irgendwas. Denken Sie an Marlenes Kind. Wollen Sie sich an einer Fünfjährigen rächen?«
Pia glaubte, für einen kurzen Moment Verunsicherung über Dorothea Bauers Gesicht huschen zu sehen, aber es konnte genauso gut ein Sonnenstrahl gewesen sein, der sich durch das Blätterdach verirrt hatte. Irgendwo im Wald hallten Rufe wider.
»Hören Sie das? Werfen Sie die Waffe weg. Noch haben Sie alle Chancen. Ich bin sicher, Marlene wird Sie nicht ein zweites Mal verraten. Und der Mann, der Sie damals vergewaltigt hat, ist tot.«
»Sie haben doch keine Ahnung von irgendwas, Frau Korittki«, zischte die Bauer, aber sie senkte die Waffe ein wenig, weil sie nachdachte. In diesem Moment wurde Pia klar, dass Dorothea nicht aufgeben würde. Es war zu spät. Das Gift, das Aconitin, Holger Michaelis, Moritz Barkau ... Dorothea Bauer war bereits zu weit gegangen. Aus ihrer Sicht blieb ihr nichts mehr als diese Rache.
Genau zu diesem Schluss würde sie kommen und ihren Plan durchziehen, wenn sie ihre Überlegungen in ein paar Zehntelsekunden beendet hatte. Dorothea Bauer hob den Lauf ihres Revolvers wieder ein wenig an, sah zu Pia herüber und ... Pia zog den Abzug durch. Der Rückschlag fuhr ihr in Handgelenk und Arm. Die Patronenhülse flog zur Seite weg. Es war wie im Schießstand und gleichzeitig erschreckend real.
Im ersten Moment dachte sie, sie hätte vorbeigeschossen. Dorothea riss erstaunt die Augen auf, taumelte wie in Zeitlupentempo rückwärts. Dann stolperte sie und ging zu Boden.
Ich habe gerade auf einen Menschen geschossen, dachte Pia mit einer aufdringlichen Langsamkeit, die fast schmerzhaft war. Oh Gott, habe ich wirklich auf ihre rechte Schulter gezielt? Bin ich so gut, wie ich es immer dachte? Sie ist keine Zielscheibe, sie ist ein Mensch!
Ich wollte sie nicht töten, ich wollte nicht schießen, ich wollte nicht ... ganz falscher Film!
Im ersten Moment, nachdem Dorothea zu Boden gegangen war, stand Pia wie gelähmt da. Sie hörte, durch ein Singen in ihren Ohren hindurch, Marlene am Boden wimmern. Dann Stimmen, die immer näher kamen.
Ein glatter Schulterdurchschuss hatte Dorothea Bauer zu Boden gestreckt. Der Transport zum eilig herbeigerufenen Rettungswagen auf einer Trage über Stock und Stein war für Dorothea Bauer unzweifelhaft eine sehr schmerzhafte Angelegenheit. Jedenfalls nach den Klagelauten zu urteilen, die die Verletzte ausstieß und die hohl im Wald und auch in Pias Ohren widerhallten. Der erste den Schmerz verdrängende Schock war wohl bereits vorüber, das verabreichte Schmerzmittel wirkte noch nicht.
Marlene Liebig schien mit dem Schrecken und ein paar Prellungen und Blutergüssen davongekommen zu sein. Sie war recht schnell wieder auf den Beinen und bestand darauf, zu Fuß zurück zum Parkplatz zu gehen. Ihre Schwägerin würdigte sie keines Blickes.
Sanitäter und Polizei, alle sahen Pia mit einer Mischung aus Verwunderung und Unbehagen an. Sie konnten nicht so recht nachvollziehen, dass Marlene tatsächlich in akuter Lebensgefahr geschwebt hatte. War sich nicht einmal Marlene selbst der Gefahr bewusst? Pia hoffte vergeblich auf ein erklärendes Wort von ihr, eine Anerkennung ihres Einsatzes. Marlene drehte sich weg und verließ humpelnd, mit einem sie fürsorglich abstützenden Sanitäter
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