Blaufeuer
wortlos. Der Kühlschrank unterlegt das Schweigen mit einem auf- und abschwellenden Betriebsgeräusch.
»Wir sollten meine Mutter fragen, ob sie mit uns frühstücken will.«
»Sie ist ins Krankenhaus zu deinem Vater gefahren. Wir können ungestört sprechen.« Er räuspert sich. »Janne, ich mache mir Sorgen wegen dieser Sache. Große Sorgen.« Es klingt wie ein Vorwurf.
Janne beißt in ihr Brötchen. Pflaumenmus tropft ihr über das Kinn, weil ihre Hand zittert. Unkontrollierbar. Sie legt das Brötchen zurück auf den Teller.
»Du solltest mit allem, was du weißt, schleunigst zur Polizei gehen.« Er trommelt mit den Fingern auf der Tischplatte herum wie auf seiner Computertastatur.
»Was weiß ich denn schon? Mein Vater hält sich für das eigentliche Ziel des Mordanschlags auf Erik, und er pflegte ein seltsames Verhältnis zu einer Tanzlehrerin, die er später nicht mehr losgeworden ist. Außerdem hatte er diverse Geliebte. Das soll ich der Polizei erzählen? Was sollen die denn damit anfangen?« Janne muss an ihren Besuch auf der Wache denken, von dem sie Nils nicht berichtet hat. »Wie ich dir gesagt habe, war es der Wunsch meines Vaters, die Polizei nicht einzuweihen. Er wollte, dass wir die Angelegenheit allein in Ordnung bringen.«
»Angelegenheit nennst du das? Wir reden hier von Mord. Da kann man nichts mehr in Ordnung bringen.«
»Daran brauchst du mich nicht zu erinnern.«
»Wenn du nicht mit der Polizei sprichst, tue ich es.« Das Trommeln wird lauter und schneller.
»Zwecklos. Ich werde alles leugnen«, sagt Janne.
»Das wirst du nicht tun.«
»Lass es doch darauf ankommen.«
»Du nimmst eine Falschaussage in Kauf, weil dein Vater es befohlen hat? Das wäre strafbar.«
Er kostet das Wort aus, als würde er ein As aus dem Ärmel schütteln.
»Für meine Familie würde ich jederzeit lügen, wenn es sein muss. Gegenüber der Polizei, vor Gericht ... vor Gott.« Eigentlich hat sie das nur gesagt, um ihn auszustechen, aber jedes Wort schmeckt nach Wahrheit. »Du etwa nicht?«
Nils hört auf, mit den Fingern zu trommeln, langt über den Tisch und legt seine Hand auf ihre. »Das ist doch Wahnsinn«, sagt er mit einer plötzlichen Milde, die ihr falsch erscheint. »Erik gehörte auch zu deiner Familie. Glaubst du, er hätte gewollt,dass du die Polizisten belügst, die seinen Tod aufzuklären haben?«
Janne schweigt. Sie weiß nicht, was ihr Bruder in dieser Situation gewollt hätte - und fragen kann sie ihn leider nicht mehr.
»Was hat dein Vater zu verbergen, Janne? Es geht ihm doch sicherlich nicht um diese blöden Frauengeschichten. Ehebruch ist schließlich nicht strafbar. Gut, er will nicht, dass seine Frau dahinterkommt, aber deswegen würde er doch kaum den Mörder seines Sohnes decken.«
Sie schweigt hartnäckig weiter, während er sich in Rage redet. »Pass auf, da dein Vater den Kontakt zur Polizei scheut, gehen vielleicht irgendwelche illegalen Geschäfte auf sein Konto. Womöglich hat er sich Feinde gemacht, denen er zutraut, ihn töten zu wollen. Gefährliche Leute also. Mit denen darfst du dich nicht anlegen, indem du auf eigene Faust Nachforschungen anstellst, Janne, das ist total leichtsinnig.«
»Wenn ich eine Ahnung habe, wer dahintersteckt, kann ich der Polizei ja Informationen zuspielen, die meinen Vater nicht in Bedrängnis bringen.«
»Informationen zuspielen? Wie redest du eigentlich?« Seine Hand umklammert ihre noch fester.
Er spricht über ihren Vater wie über einen Kriminellen, was Janne zweifeln lässt, auf welcher Seite er steht. Sie hat Halt gesucht, als sie sich ihm anvertraut hat, nun empfindet sie ihn als weiteren Unsicherheitsfaktor.
Sie schickt ihn weg zu seinen Eltern. An der Tür sagt er, dass sie nicht wiederzuerkennen sei.
Hätten sie es bloß beim Sex belassen.
Janne geht ins Watt. Es kostet sie Überwindung, gleichzeitig folgt sie einem inneren Zwang. Sie will in Eriks Nähe sein, denn imMoment, so kommt es ihr vor, ist das die einzige Nähe, die überhaupt etwas taugt.
Es ist neblig, der Himmel, der Silberstreif der Nordsee am Horizont und die endlose Ebene verlieren sich in dem grauen Gespinst aus Wassertröpfchen. Sie ist wachsam. Nebel wird im Watt schnell zur Bedrohung. Eigentlich wird alles schnell zur Bedrohung, wenn man sich auf den Meeresgrund hinauswagt. Einen Lebensraum finden hier nur anpassungsfähige Kreaturen wie der Wattwurm, der überall auf den von der See geformten Rippeln spiralförmige Sandhäufchen hinterlässt.
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