Blaufeuer
Krankenhausbett, unfähig, sich zu rühren, nicht einmal atmen kann er ohne die Hilfe von Maschinen. Verständigung ist ausgeschlossen. Er versucht es und scheitert, sein Körper hat ihn in Isolationshaft gesperrt. Mit dem Geschmack von Meersalz auf den Lippen und dem Wissen, dass Erik nicht mehr lebt.
Als die Verzweiflung ihm die Brust zuschnürt, hört er die Stimme. Jannes Stimme. Seine Tochter, das tapfere Kind, hat ihn nicht im Stich gelassen, sondern harrt vor der Zellentür aus und redet mit ihm. Über Liebe und Treue. Himmel, dieses Mädchen steht sich so sehr selbst im Weg. Wenn doch endlich jemand käme und ihr einen Schubs gäbe. Ihm wird heiß vor Ungeduld, und das bleibt ihr nicht verborgen. Mit einem feuchten Tuch kühlt sie sein Gesicht. Er ist unendlich dankbar, weil sie den Mund mit seinen salzigen Lippen nicht ausspart. Dabei redet sie unentwegt, er hat Mühe, ihr zu folgen. Mord? Wieso Mord? Dann erinnert er sich auch daran. Dass Eriks Tod kein Unfall war, sondern ein Akt der Grausamkeit, der eigentlich ihm, Paul Flecker, gegolten hat. Und er erinnert sich, seine Tochter auf die Suche nach der Wahrheit geschickt zu haben. Erschüttert begreift er, was er getan hat. Wie konnte er? Wenn sie so weitermacht und anfängt, nicht nur seine schmutzige Wäsche zu durchwühlen, sondern auch die Leichen aus dem Keller ans Licht zu zerren, ist sie womöglich bald in ernster Gefahr. Er muss sie stoppen.
Paul Flecker will sie warnen, aber sein Kerker ist perfekt isoliert. Nichts dringt nach außen.
Unter Hyänen
JANNE
Ihr Kopf schlägt hart gegen einen Balken. »Verzeihung.«
»Nicht schlimm. Mach weiter.«
Sie liegt auf dem Rücken. Er hat es nicht leicht: Im feuchten Sand kniend, muss er die Balance halten und stoßen und dabei noch ihre Beine umklammern. Janne könnte verstehen, wenn er die Stellung wechseln wollte, weil es ihm so einfach zu anstrengend ist, aber ...
»Mir ist kalt.«
Kalt? Im Winter trägt er immer diese Spezialkleidung aus Island, die ursprünglich für Bauarbeiter am Polarkreis entworfen wurde, mittlerweile aber als Designerware edel vermarktet wird. Lediglich ein Minimum seiner Lenden ist dem Seewind ausgesetzt, während ihr Unterleib komplett nackt ist. Janne stöhnt.
»Mir ist kalt«, wiederholt er.
»Dann tu was. Beweg dich stärker.«
Sie hat die Hände in die Hüften gestützt und hebt das Becken weiter an. Er setzt nach, bis er dorthin gelangt, wo es schön ist. Schöner als schön. Am schönsten. Dort tollt er, weil er nun nicht mehr friert, beinahe ein bisschen zu lange umher, doch das machtnichts, besser so als umgekehrt. So ist sie selig und kann ihm dabei zusehen, wie er es wird. Sie kennt außer Nils keinen anderen Kerl, der sogar dabei gescheit aussehen kann.
»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, sagt Janne. »Was soll das denn heißen?«
»Ich hatte befürchtet, ich würde auf unabsehbare Zeit immer meinen Vater vor mir sehen, wenn ich an Sex denke, wie er es mit einer Zugbegleiterin im Gepäckwagen treibt. Jetzt hast du dieses Bild in meinem Kopf hoffentlich gelöscht und ein anderes hinterlegt. Ein prickelndes.«
»Soso, das fandest du jetzt prickelnd«, sagt er, und sie ärgert sich über seinen herablassenden Tonfall. Als ob es bei ihm nicht geprickelt hätte.
Nils schließt Hose und Jacke. Er weicht ihren Blicken aus. Auch Janne bringt ihre Kleider in Ordnung.
»Sollen wir heimgehen?«, fragt sie.
»Lass uns lieber noch kurz hier sitzen bleiben.«
Mittlerweile ist ihr kalt, aber das behält sie für sich. Sie klettern auf die Steinmauer und lassen die Beine über dem Wasser der Elbmündung baumeln. Die Nacht ist hell, viele Sterne, kaum Wolken. Der sichelförmige Mond spiegelt sich im Meer. Klare Sicht. Sogar die Lichter der Ölförderplattform Mittelplate sind gut zu erkennen. Der Wind weht mäßig, und es herrscht kaum Seegang. Nur hier und da klatscht eine größere Welle gegen das Bollwerk, und die Gischt schlägt zu ihnen hoch.
Sie sind an der Kugelbake, dem hölzernen Wahrzeichen der Stadt. Das nordwestlich des Hafens gelegene Seezeichen war früher ein wichtiger Orientierungspunkt für Schiffe, weil es auf der Landspitze errichtet wurde, die den Übergang zwischen Elbe und Nordsee markiert und dem Fahrwasser eine Krümmung aufzwängt. Früher brannte sogar ein Leuchtfeuer an der Spitzedes zeltförmigen Gerüsts aus mächtigen Balken. Das Kap am nördlichsten Ende Niedersachsens ist Jannes Lieblingsplatz in Cuxhaven, nicht gerade
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