Blaufeuer
Das rostrote, fingerdicke Kriechtier gilt als nützlich, weil es den Wattboden frisst und organische Rückstände verwertet: Algen, Bakterien, Hautpartikel, Menschenblut. Praktisch. Am Ende der Verdauungskette wird purer Sand ausgeschieden, weshalb Fremdenführer den Wurm gern als Staubsauger des Watts preisen.
Janne erwartet die Schreie ihres Bruders und erträgt sie. Zuhören. Nicht wegrennen. Mehr kann sie nicht für ihn tun.
Als es vorbei ist, lässt sie in Gedanken den Streit mit Nils Revue passieren. Natürlich weiß sie, dass er recht haben könnte. Ihr Vater hat wahrscheinlich nicht nur liebeshungrige Frauen gegen sich aufgebracht. Verprellte Kunden, Konkurrenten - Widersacher dürften vielerorts zu finden sein. Aber die meisten wären sicher nicht darauf aus, ihn zu töten. Wo also soll sie anfangen zu suchen? Muss sie davon ausgehen, dass ihr Vater gegen Gesetze verstoßen hat? Es wird ja einen Grund für sein Misstrauen gegenüber der Polizei geben.
Der Nebel wird dichter. Strand und Wasserlinie lassen sich kaum noch auseinanderhalten. Vereinzelte Sonnenstrahlen durchdringen den kalten Dunst. Eine diffuse Lichtflut. Janne blinzelt.
Als das Trommeln der Hufe ihr Bewusstsein erreicht, ist es bereits so nah, dass sie die Stöße auf dem Boden spürt. Jannedreht sich zur Seite. Ross und Reiter als Schattenriss, direkt neben ihr. Sie hört das Keuchen des Pferdes, sieht seinen Atem.
»Hey«, ruft sie warnend und will ausweichen. Es ist zu spät. Das Pferd erwischt sie zwar nicht frontal, sondern streift sie lediglich mit der Flanke. Der Zusammenprall ist trotzdem so heftig, dass sie taumelt. Alles geschieht wie in Zeitlupe. Etwas Metallisches schlägt gegen ihre Stirn, eine Stiefelschnalle oder die Kante des Steigbügels. Als der Hinterlauf des Tieres ihren Rücken trifft, geht Janne zu Boden. Ein Krachen in der Wirbelsäule, und sie landet mit dem Gesicht im Schlick, wo sie regungslos liegen bleibt. Ein in Stoff gehülltes Bündel Schreck. Von fern hört sie das Wiehern des Pferdes. Das Watt vibriert, auch nachdem der Hufschlag längst verklungen ist.
Minuten vergehen. Janne hebt den Kopf. Mühsam begreift sie, dass der Reiter nicht umkehren wird, um ihr aufzuhelfen. Dort, wo ihr Gesicht gelegen hat, schimmert der Wattboden rot. Sie bewegt ihre Glieder, richtet sich auf. Rücken und Schulter tun weh, aber nichts scheint gebrochen. Insgesamt hält sich der Schmerz in Grenzen. Ihre Augen brennen. Wenn sie reibt, wird es schlimmer. Aus der Jackentasche zerrt Janne ein Papiertaschentuch hervor und säubert sich damit das Gesicht, so gut es geht. Von ihrer Stirn tropft Blut.
»Futter«, sagt sie zu den Wattwürmern.
Sie macht sich auf den Weg zurück an Land. Glücklicherweise ist der Nebel dünner geworden. Ihre Kleider, vollgesogen mit Wasser und schlickverkrustet, sind bleischwer, so dass Janne immer wieder strauchelt. Auf der Strandpromenade angelangt, wird sie von einem schwallartigen Erbrechen geschüttelt. Die wenigen Spaziergänger, die unterwegs sind, wenden sich ab und beschleunigen das Tempo, worüber Janne ebenso erschüttert wie erleichtert ist.
Zu Hause schließt Janne sich im Badezimmer ein und begutachtet den Schaden vor dem Spiegel. Sie sieht geschunden aus mit Blutergüssen und Hautabschürfungen am ganzen Körper. Die Blessur auf der Stirn über der linken Augenbraue ist besonders unschön, eine tiefe, etwa drei Zentimeter lange Schramme, die bereits begonnen hat zu verkrusten. Janne befürchtet, dass eine Narbe zurückbleiben wird. Mit aller Härte, die sie sich selbst gegenüber aufbringen kann, versorgt sie ihre Wunden, dann stellt sie sich unter die Dusche und heult. Übel ist ihr kaum noch, weshalb sie beschließt, keinen Arzt aufzusuchen, sondern selbst darauf zu achten, ob sich weitere Symptome einer Gehirnerschütterung einstellen.
Sie setzt sich an den Schreibtisch, um ihre Beobachtungen im Watt zu notieren: Das Pferd war ein dunkelbraunes oder schwarzes Vollblut, geritten von einer großen, schlanken Person in dunkler Kleidung mit Kapuze. Eher ein Mann als eine Frau. Aber völlig sicher ist sie sich nicht, da sie das Gesicht nicht erkennen konnte. Sie würde gern an ein Versehen glauben. Reiter im Watt sind keine Seltenheit, nicht wenige benehmen sich rüpelhaft, besonders an grauen Tagen, wenn kaum Wanderer unterwegs sind. Könnte der Zusammenstoß vom Reiter unbemerkt geblieben sein? Nein, ausgeschlossen.
In der Nacht werden die Schmerzen unerträglich. Janne nimmt
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