Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blaufeuer

Titel: Blaufeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
Vom Netzwerk:
Vaters. Ausgerechnet der hässliche Wohnblock hinter dem Deich hat sie dazu gebracht zu erkennen, was dieser Mann gegen so viele Widerstände aus dem Nichts aufgebaut hat. Aus dem Nichts, das sagt sich so leicht, wenn man das Gegenteil gewohnt ist, nämlich Überfluss in jeder Hinsicht: Anerkennung, Wohlstand, Liebe. Wer aus ihrer Generation kennt schon das Nichts? Sie sah diese verglasten Balkone vor sich und stellte sich vor, dass alles den Bach hinuntergehen könnte, wegen einer Dummheit, die er früher möglicherweise begangen hat. Sie muss wenigstens wissen, warum er die Polizei scheut. Vielleicht kann sie ja Spuren verwischen.
    Der zweite Grund wog sogar noch schwerer: Weiterhin kommt ihrer Meinung nach Viktoria als Täterin in Frage. Die betrogene Ehefrau. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage hält sie dieses Szenario zwar für unwahrscheinlich, aber eben nicht für ausgeschlossen. Sie kann doch nicht ihre eigene Mutter anzeigen, adoptiert oder nicht.
     
    Auf dem Parkplatz des Krankenhauses begegnet ihr Meinhard. Er trägt einen zerknitterten Anzug und hat tiefe Ränder unter den Augen. Seine Schwester bemerkt er erst, als sie ihn anspricht: »Hey, du siehst ja beschissen aus. Sei froh, dass unser Vater dich nicht sieht.«
    Er umarmt sie flüchtig.
    »Auch als Reizangebot einbestellt?«, fragt Janne. »Ja, genau.« Er deutet auf ihren Geigenkoffer. »Hast du für ihn gespielt?« Janne nickt.
    »Das hätte ich gern gehört. Du musst die Musik schrecklich vermissen.«
    »Nicht so sehr, wie du deine Kranken vermissen würdest, wenn du an meiner Stelle wärst. Ich kann das Geigen wenigstens als Hobby betreiben«, entgegnet sie.
    »Auch wieder wahr.«
    Sie verabreden sich zum Mittagessen in Duhnen. Eine gute Gelegenheit, im familieneigenen Restaurant nach dem Rechten zu sehen. Seit dem Tag der Beerdigung hat sich dort niemand von ihnen blicken lassen.
     
    Wie es aussieht, läuft der Laden blendend. Bunt gemischtes Publikum, Einheimische und Touristen sind gleichermaßen vertreten. Sie kommen nicht umhin, an einigen Tischen stehen zu bleiben, um Fragen nach dem Befinden ihres Vaters zu beantworten. Meinhard überlässt seiner Schwester das Wort. Janne erwähnt die Fortschritte mit keiner Silbe.
    Sie suchen sich einen Tisch abseits des Trubels in einem Seitenraum ohne Meerblick. Sönke, der Geschäftsführer, zeigt sich hocherfreut, sie zu sehen. Auch er erkundigt sich sogleich nach Paul Flecker. Die beiden sind befreundet. Ihr Vater verschafft Freunden gern gute Jobs.
    »Es gibt ...«, will Meinhard antworten, doch Janne fällt ihm ins Wort: »... keinerlei Hoffnung auf Besserung. Wir wissen nicht, wie es weitergehen soll.«
    Sönke verschränkt die Hände hinter dem Rücken und blickt zu Boden wie bei einer Schweigeminute, aber er redet weiter: »Ich kann euch nicht sagen, wie leid mir das tut. Wenn es etwas gibt, was ich für euch tun kann, oder für eure Mutter ...«
    »Wir würden gern Mittag essen«, sagt Janne.
    »Natürlich. Ich hole euch die Karte ... Oder wisst ihr schon?«
    »Die Karte bitte.«
    Sichtlich vor den Kopf gestoßen, beschränkt sich Sönke fortanauf das Servieren. Janne findet, für einen Mann, der Ähnlichkeit mit einem Flusspferd hat, ist er ziemlich dünnhäutig.
    »Was sollte das denn?«, fragt Meinhard, nachdem sie bestellt haben. »Er ist ein guter Bekannter unseres Vaters. Warum erzählst du ihm nicht, dass es nicht mehr ganz so übel aussieht?«
    »Aberglaube.«
    Das Essen kommt. Der Koch hat sich ins Zeug gelegt. Janne hat gegrillte Langusten, Meinhard ein Rumpsteak bestellt. Er isst hastig, als hätte er länger nichts bekommen. Anschließend taucht er noch mehrere Stücke Weißbrot in den Sud aus Rinderblut, Fett und Ketchup auf seinem Teller. Janne lässt die Hälfte stehen. Sie kann sich nicht erinnern, ihren ältesten Bruder je so hungrig erlebt zu haben. Geradezu gierig. Sie drehen alle am Rad, die ganze Familie - was davon noch übrig ist.
    »Was hast du denn vorhin Stimulierendes gemacht, als du bei Papa warst? Nur geredet?«, fragt sie.
    »Ich habe ihm aus Schuld und Sühne vorgelesen.«
    »Dostojewski. Nicht gerade Erbauungsliteratur«, sagt Janne und stellt sich vor, wie der Neurologe darauf reagiert haben mag. Wo er doch so aufs Heitere setzt. Vermutlich hält er die Fleckers allesamt für Selbstmordkandidaten.
    »Was soll ich machen? Es ist nun mal sein Lieblingsbuch«, entgegnet Meinhard. »Für einen Volksschüler wie Papa eigentlich seltsam, aber er ist ja immer

Weitere Kostenlose Bücher