Blaulicht
durstige Erde berührt. Die dicken Stahlseile der Baukräne, an denen riesige Betonteile baumeln, ächzen und knirschen.
Die psychiatrische Abteilung ist in einem historischen Gebäude am hinteren Ende des Klinikgeländes untergebracht. Vor einigen Zimmern befinden sich Balkone, es gibt sogar Fensterläden aus weißen Lamellen, wie man sie aus dem Süden kennt – Spanien, Italien, vielleicht auch der Schweiz, Davos. Kascha fühlt sich unwillkürlich an Sanatorien erinnert, wie es sie zu Zeiten Thomas Manns noch gegeben hat. Sanatorien, denkt sie, Gesundheitshäuser hießen die einmal, heute sind es Krankenhäuser, und Krankheit ist eine Ware geworden, mit der man spekulieren und viel Geld verdienen kann. Heute stirbt kein Mensch nach einem langen und vielleicht sogar erfüllten Leben einfach nur an Altersschwäche; er stirbt, weil eines oder mehrere seiner Organe nicht mehr stark genug waren und im Kampf ums Leben versagt haben. Organversagen! – Was für ein grauenhaftes und unmenschliches Wort, gerade so, als wäre der Mensch eine Maschine, die ausgemustert wird, wenn sie sich nicht mehr reparieren lässt. Wir sind Versager, wenn wir sterben. Wir sind Versager, weil wir sterben.
»Frau Dr. Halbritter?«
Kascha ist so in Gedanken versunken, dass sie den braungebrannten Mann im weißen Kittel, der durch den Flur forsch auf sie zugekommen war, erst jetzt bemerkt.
»Mein Name ist Weller, wir haben heute Vormittag schon am Telefon miteinander gesprochen.«
»Danke, dass Sie sich so kurzfristig frei machen konnten, ich hätte unter normalen Umständen nicht so gedrängt, aber Sie wissen ja, dies sind keine ganz normalen Umstände. Wie geht es Sandra Kovács?«
»Gehen wir in mein Büro«, gibt der Psychiater statt einer Antwort zurück und öffnet eine altmodisch hohe Tür mit durchbrochenen Milchglasscheiben, »hier drinnen ist es dank der Bäume vor den Fenstern wenigstens einigermaßen kühl.«
»Nehmen Sie Platz«, er lässt sich in einen hellgrauen Ledersessel fallen und füllt zwei Gläser mit stillem Mineralwasser, »bitte sehr – momentan kann man gar nicht genug trinken.«
Die Ausstattung von Wellers Büro entspricht exakt dem Gegenteil dessen, was man in diesem historischen Gebäude vermuten würde, obwohl man sie in gewisser Weise auch schon wieder als historisch bezeichnen könnte: Glas, Chrom, Leder und steingrau als dominierende Farbe. Nur die bunten Medikamentenschachteln in den Vitrinen und das eine oder andere Buch auf dem deckenhohen Regal durchbrechen die öde Designertristesse der späten Achtziger. Hier, denkt Kascha, hätte man auch 9 ½ Wochen drehen können, diesen Kultfilm der Yuppiegeneration mit der eisglatten Ausstrahlung von Neonlicht auf Hochglanzfliesen und einem Helden, der Broker an der Wallstreet ist.
»Wie geht es Frau Kovács?« wiederholt Kascha ihre Frage, ohne das Wasserglas auch nur angerührt zu haben. »Ist sie immer noch so apathisch, wie es im Bericht Ihres Kollegen steht, oder konnten Sie in der Zwischenzeit zu ihr durchdringen?«
»Ich habe ihr ein Benzodiazepin geben lassen«, sagt Weller und reibt sich die Nasenwurzel, dort, wo das stahlblaue Gestell seiner Brille einen schwachen Abdruck hinterlassen hat.
»Sie haben sie ruhiggestellt?« Kascha ist fassungslos. »Aber Sie haben doch gewusst, dass ich sie jetzt gleich befragen will!«
Dr. Weller reagiert nervtötend gelassen auf den Vorwurf der Psychologin.
»Kommt Ihnen an dem Wasser irgendetwas bedrohlich vor, Frau Dr. Halbritter?«
»Sie meinen, weil ich noch nicht getrunken habe?« fragt sie irritiert.
»Nein, ich meine, ob Ihnen das Wasser, besser gesagt die Wasserkaraffe, in irgendeiner Form bedrohlich erscheint.«
»Natürlich nicht, aber worauf wollen Sie hinaus?«
Der Psychiater dreht die Glaskaraffe auf dem Tisch, als wollte er untersuchen, ob nicht doch irgendetwas daran geeignet sei, einen Menschen zu erschrecken.
»Sehen Sie, auch ich kann beim besten Willen nichts entdecken, was an diesem Ding furchteinflößend sein soll, und doch war es genau so eine Karaffe, wie sie in jeder Teeküche auf dem Klinikgelände auf jeder Station in unzähligen Schränken steht, die letztlich den Ausschlag für meine Entscheidung gegeben hat, der Patientin ein Beruhigungsmittel zu geben. Angefangen hatte es allerdings bereits damit, dass sie auf eine kleine Bemerkung der Stationsschwester hin vollkommen durchgedreht ist. Sie fing an zu toben, hat Gegenstände durchs Zimmer geworfen, hat immer
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