Blaulicht
erstes einmal Ihre ganz spontane Meinung über Sandra Kovács interessieren. Sie waren ja schon einmal bei ihr und haben auch in ihrem Umfeld recherchiert.«
»Das ist schwierig zu sagen«, Zoe seufzt und streicht sich mit der flachen Hand ein paar Ponysträhnen aus der Stirn. »Sie haben ja sicherlich im Protokoll gelesen, dass sie kein einziges Wort gesagt hat, als wir bei ihr waren. Sehr viel Konkretes hat das Umfeld auch nicht gebracht. Wir wissen, dass Sandra vor ungefähr drei Jahren verschwunden ist, wahrscheinlich hat sie den Tod ihres Freundes nicht verkraftet.«
»Vor drei Jahren, hm. Was ist mit dem Opfer, diesem Musiklehrer?«
»Der Gerlach gilt als nicht vernehmungsfähig. So war jedenfalls der Stand der Dinge bis gestern Abend. Die Verletzungen an Hals und Brust ließen sich laut Arzt zwar erfolgreich operativ behandeln, aber wegen des hohen Blutverlusts wurde er in ein künstliches Koma versetzt, um den Körper zu entlasten. Ich hab da allerdings so ein Gefühl ...« Sie stockt und schaut durch Dr. Halbritter hindurch auf die Wand, als stünde dort etwas höchst Interessantes geschrieben.
»So ein Gefühl?«, hakt die Psychologin nach.
»Na ja, irgendwie scheint dieser Gerlach nicht ganz sauber zu sein. Aber es gibt nichts Greifbares, lediglich Andeutungen, vielleicht sind es auch einfach nur falsche Verdächtigungen. Vielleicht irre ich mich auch, aber es will mir nun einmal nicht in den Kopf, warum ein Mädchen wie Sandra – musisch begabt, eher introvertiert, sensibel – warum so ein Mädchen vorsätzlich mit einem Messer auf ihren Musiklehrer losgeht, bei dem sie jahrelang nur die besten Noten gehabt hat. Und vor allem, warum wartet sie damit so lange? Das entspricht weder irgendeinem Profil, noch ergibt es einen Sinn!«
Die berühmte Frage nach dem Motiv. Die junge Kommissarin kann sich offenbar nicht vorstellen, dass es manchmal gar kein Motiv gibt, jedenfalls keines, das der oft zitierte gesunde Menschenverstand begreifen würde. Vor allem Menschen mit einer stark ausgeprägten künstlerischen Begabung, mit einer lebhaften Fantasie, driften gelegentlich in Bereiche ab, die mit der sogenannten Realität kaum noch etwas zu tun haben. Unzählige Künstlerbiografien sind eine wahre Fundgrube für die verschiedensten Formen von Psychosen, von schweren psychischen Störungen, unter denen diese Menschen gelitten haben. Oft, wenn auch nicht immer, spielen Drogen hierbei eine entscheidende Rolle, manchmal sind es aber auch gravierende Schockerlebnisse, die die Weltsicht eines Menschen vollkommen verzerren können. So etwas muss Francisco de Goya im spanischen Unabhängigkeitskrieg widerfahren sein, die ›Greuel des Krieges‹ haben seinen Blick auf die Welt für immer verändert.
Dr. Halbritter ist aufgestanden und betrachtet nun offenbar mit großem Interesse einen Kunstdruck an der Wand – Paul Klee, Hauptweg und Nebenwege, 1929 steht darunter. Auf dem Bild sieht man Linien, gerade, holprige, horizontale, vertikale, lange und abgebrochene. Die Linien treffen sich, schneiden das Bild in verschieden große, blassfarbige Flächen. Im Zentrum laufen zwei Vertikalen scheinbar Richtung Horizont, dorthin, wo eigentlich eine Sonne auf- oder untergehen sollte, würde es sich um ein Standbild aus einem Western handeln, hier jedoch läuft das Auge auf ein trostloses Blauviolett zu.
»Es gibt immer wieder Tatsachen, die sich weigern, den Erwartungen zu entsprechen«, sagt die Psychologin mehr zu sich selbst als zu ihrer Gesprächspartnerin, und laut fügt sie hinzu:
»Würden Sie mir einen Gefallen tun?«
»Sicher!«
»Sagen Sie bitte Kascha zu mir.«
»Gern. Sagen Sie Zoe.«
»Fein, Zoe. Wir haben noch etwas über eine Stunde Zeit bis zum Termin mit dem behandelnden Psychiater im Klinikum. Was halten Sie davon, wenn wir uns draußen ein halbwegs kühles Plätzchen suchen und uns bei einem Kaffee weiter über den Fall unterhalten?«
»Uahh«, stöhnt die Ermittlerin und hält sich spontan die Hand vor den Mund, »alles, was Sie wollen, aber ich trinke ganz bestimmt keinen Kaffee!«
*
Etwa zur gleichen Zeit, als Kascha und Zoe das Präsidium verlassen, um einen Abstecher in ein Eiscafé in der Innenstadt zu machen, schlägt Kalz die Tür seines Wagens zu, den er auf dem Dienstparkplatz abgestellt hat. Er eilt ins Labor, wo er das Plastiktütchen aus Pilsen mit einem »äußerst dringend – ich brauch das Ergebnis in einer Stunde!« hinterlässt, zögert kurz, ob er sich in seinem
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