Blaulicht
zu spüren. Eine Zeitlang hab ich mir eingebildet, ich kann sie den Leuten ausziehen. Blödsinn. Nein. Niemand kann das. Ich kann nur helfen, sie zu ertragen und vielleicht ein wenig zu lockern. Und weil jede Mutter mit dem Risiko leben muss, dass sie ihr Kind verbiegt und verkrüppelt durch das, was sie tut oder nicht tut, durch das, was sie ist oder nicht ist, habe ich Angst davor gehabt, ein Kind zur Welt zu bringen, das mich einmal hassen könnte. Obwohl ich mir immer ein Kind gewünscht hab.«
»Man muss geben können, um nehmen zu können!« Klingt wie Gandhi, stammt aber von einem ihrer Professoren in der forensischen Psychologie. Kascha hatte sich damals an die Geheimnisse erinnert gefühlt, die kleine und große Mädchen miteinander austauschen, um sich ihrer gegenseitigen Sympathie zu versichern. »Verrat du mir etwas, dann verrat ich dir etwas!« Ein psychologisches Tauschgeschäft, so alt wie die Menschheit und wertvoller als der Tausch von materiellen Gütern, weil Urwährung.
Ist Sandra ein Gegengewicht zur Welt? Gibt es Menschen, die das schwarze, bleierne Gegengewicht dafür sein müssen, dass das Leben draußen vor dem vergitterten Fenster überquellen kann vor Sommer, Lust und Fülle? Das fragt sie sich, während sie unbeirrt weiterredet, erzählt – oder zumindest so tut, als ob. Sie redet, tastet sich an ihren Assoziationen entlang, klick-klick-klick. Die Kette darf nicht reißen. Lass dich von den Bildern leiten, sende Bilder! Irgendwann kommt eine Antwort, ein anderes Bild zurück, eine Botschaft von einem fremden Planeten. Das Blei, das Dunkel, eine Kerkerdecke senkt sich auf einen Inhaftierten, Wände rücken zusammen, angetrieben vom kreischenden Klang einer teuflischen Mechanik. Alpträume werden Wirklichkeit.
»Kennst du Edgar Allan Poe? Hast du schon einmal eine Geschichte von ihm gelesen? Vielleicht kennst du Grube und Pendel . Da wacht einer auf und findet sich in einer Gefängniszelle wieder, und über ihm schwingt ein Pendel mit einem scharfen Messer, das ihm unaufhaltsam und unerträglich langsam immer näher kommt. Ich hab die Geschichten von Poe in die Hand bekommen, da war ich erst zehn, und in einer der Geschichten habe ich etwas entdeckt, was mit mir sehr viel zu tun hatte. Es ging um jemanden, der lebendig begraben wird. Ich habe darin eine Angst entdeckt, die ich schon als kleines Kind hatte, und von der ich niemals einem Menschen erzählt habe. Damals nicht und heute nicht. Ich hatte als Kind Angst davor, lebendig begraben zu werden, und ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass noch irgendjemand anderer auf der Welt diese Angst haben könnte. Und dann fand ich sie aufgeschrieben vor mir.«
Frau Dr. Halbritter hat sich in Schweiß geredet und bemerkt, dass sie sich, auf und ab gehend, unwillkürlich in Sandras Nähe bewegt hat, als fände sie dort Abkühlung.
»Die Angst hatte einen Grund. Als ich ein Kind war, konnte ich mich manchmal nicht bewegen. Das passierte mir meistens beim Aufwachen. Manchmal auch beim Einschlafen. Es hat sich so angefühlt, als würde ich mich aus Versehen zu lang im Niemandsland zwischen Schlafen und Wachen aufhalten.«
Was redet sie? Warum läuft sie so viel? Plapper, plapper, plapper. Die Wände, ja die Wände sind eng, werden immer enger. Was war es? Sechs auf sechs Meter? Sechzig auf sechzig Zentimeter? Es wird enger, immer enger, und das Pendel? Ja, das Pendel! Das schreckliche Pendel senkt sich, will reißen, will schneiden! Die Ratten helfen, aber dann kommt der tiefe Brunnen.
»Und dann war ich wach, aber mein Körper hat mir nicht gehorcht. Es hat jedes Mal eine Ewigkeit gedauert, bis ich mich bewegen konnte. Ich musste mich dazu ganz fest auf irgendein Körperteil konzentrieren. Einen Finger, einen Zeh. Mit aller Macht musste ich versuchen, wenigstens einen Finger ein klein bisschen biegen zu können. Und wenn mir das gelang, war die Starre gelöst. Aber es hat Minuten gedauert, und jedes Mal bekam ich entsetzliche Angst, dass meine Mutter oder mein Vater mich so finden und für tot halten könnten.«
Du vermischst die Geschichten, Frau! Du bist hinter der Metalltür im House of Usher. Du kratzt mit den Nägeln darüber, bis sie dir brechen, du schlägst deinen Kopf gegen die harte Tür – Hilfe, Hilfe – ich leb doch noch! Aber niemand kann dich schreien hören. Niemand.
»Ich malte mir aus, wie sich das anfühlt, wenn man lebendig in einem Sarg liegt. Wenn man in die Grube hinabgelassen wird und hört, wie Erde auf den
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