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Blaulicht

Blaulicht

Titel: Blaulicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nacke
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der Birne:
     
    Was bisher alles war
    das ist Vergangenheit
    ich weine ihr nicht nach
    jetzt kommt die neue Zeit.
     
    »Hallo, Martin«, ruft ihm Sabine Hartung auf dem Dienstparkplatz entgegen, »auch mal wieder Wochenenddienst?« Kalz antwortet nicht, steuert nur auf die Pforte zu. Sollen ihn doch einfach nur in Ruhe lassen diese Weiber. Einfach nur in Ruhe lassen!
     
    *
     
    »Weißt du, warum ich keine Kinder habe?« fragt Kascha alias Frau Dr. Halbritter und wirft einen Blick auf Sandra Kovács, die so marmorbleich und in sich gefangen auf ihrem Bett kauert, als lebe sie in einem eiskalten, rabenschwarzen Paralleluniversum.
    Nachdem sie mit Zoe die Gostenhofer Buchhandlung in der Eberhardshofstraße verlassen und die Kommissarin in ihrer Wohngemeinschaft in der Bauerngasse abgesetzt hatte, war Kascha noch auf einen Abstecher in ihr Appartement in der Kleinweidenmühle gefahren. Das hatte keinen wirklichen Grund, war mehr einem Gefühl geschuldet, diente lediglich der inneren Sammlung, so wie Sportler sich vor einem wichtigen Wettkampf sammeln, sich auf das Ziel konzentrieren. Was war ihr Ziel? Was wollte sie von der jungen Frau, die vor noch nicht einmal einer Woche einen Mann niedergestochen hatte, der einmal ihr Lehrer war? Wollte sie vielleicht einfach nur mal wieder jemanden retten, so wie sie es als Kind mit Mäusen, Vögeln und Insekten versucht hat? Ganz gewiss kein besonders professionelles Motiv. Wenn die jahrelange Berufserfahrung sie eines gelehrt hat, dann dies, dass man niemanden retten kann. Man kann Hilfestellung leisten, wenn jemand um Hilfe bittet, man kann Suchen unterstützen, man kann helfen, Fragen zu klären, Knoten zu lösen, aber retten kann sich einzig und allein der Mensch, der sich selbst retten will. Ihre Mutter hatte ihr einmal den Mythos von Psyche erzählt, der schönen Geliebten des Gottes Amor. Aus Eifersucht hatte Amors Mutter Venus sie in die Unterwelt geschickt, um einen Krug Wasser aus dem Totenfluss Styx zu holen. Als Psyche sich herabbeugte, um den Krug zu füllen, griffen viele Hände nach ihr, Münder bettelten um Erlösung, flehten um Hilfe, und um ein Haar wäre sie in die Fluten gezerrt worden und ebenfalls im Totenfluss versunken. Nur die Distanz hat sie davor bewahrt.
    Es ist immer die Distanz, denkt Kascha noch auf dem Weg zum Bau 39, dort, wo Sandra, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, in einem kargen hohen Zimmer vor sich hin dämmert – nicht tot und doch nicht lebendig. Und vor das Bild der distanzierten Psyche schiebt sich ein anderes, eine Illustration von Harry Clarke zu Edgar Allan Poes Erzählung  Grube und Pendel . Ein Mann liegt, vollkommen verstrickt und verschnürt in schwarzen Bandagen, reglos unter einem schwingenden Pendel. Ratten klettern auf ihm herum, krabbeln an seinen Füßen hoch, huschen über seinen Körper, schnüffeln gierig an seinem Mund. Der Mann liegt vollkommen starr, so, als hätte er sich aus seinem Körper geflüchtet, um das Grauen nicht fühlen zu müssen. Nur seine panisch aufgerissenen Augen schreien das genaue Gegenteil, schreien: Ich stecke in mir, ich lebe noch. Hol mich heraus aus diesem Alptraum!
    Und weil Distanz eben nicht immer helfen kann, redet Kascha nun auf die junge Frau auf dem Bett ein. Redet und redet, überschüttet sie mit sich selbst, um die erstarrte Kruste der anderen aufzuweichen und irgendwo einen Zipfel von Leben zu erhaschen.
    »Es liegt nicht daran, dass ich nie den richtigen Mann kennengelernt hätte. Ich war bis vor zehn Jahren mit einem Mann zusammen, der wäre ein großartiger Vater gewesen. Und es war auch nicht so, dass ich Angst hatte vor dem Gebären. Ich hatte vor etwas ganz anderem Angst. Ich hatte Angst, dass mein Kind mich irgendwann einmal hassen würde. Weil mir die Menschen dauernd von ihren Müttern erzählen. Nicht alle. Aber viele, sehr, sehr viele. So viele, dass ich das Wort ›Mutter‹ nicht mehr hören kann. Dieses heilige Wort ›Mutter‹. Ich habe nichts gegen Mütter, aber das Mutterdasein ist verflucht. Das habe ich gelernt in meiner Praxis. Mütter können ihre Kinder nicht freilassen, selbst wenn sie es wollen. Weil sie ihre Kinder, ohne dass sie es merken, in eine Zwangsjacke stecken, und selbst wenn sie es wüssten, könnten sie es nicht verhindern. So sehe ich das. Sie prägen das Kind in ihrem Leib mit allem, was sie tun und fühlen und denken, und sie prägen es in den ersten Lebensjahren. Und die Menschen, die zu mir kommen, haben angefangen, die Zwangsjacke

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