Blaulicht
weil er einen Mathetest nachschreiben musste und dieses Ar... – und Gerlach schmeißt ihn einfach raus, obwohl wir sowieso viel zu wenig gute Tenöre haben, ich meine hatten«, korrigiert sie sich.
Kascha registriert die Zornesfalten auf Heikes Stirn und die wütend zusammengepressten Lippen, aber noch will sie mehr über Gerlach und Moritz wissen.
»Hatten denn diese Gemeinheiten einen Grund, oder können Sie sich wenigstens vorstellen, warum Gerlach es auf Moritz abgesehen hatte?«
Heike atmet nur tief und schaut die Psychologin mit Augen an, die schon wieder kurz vorm Überlaufen sind.
»Haben Sie eine Vermutung, irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte?«
»Er wollte Sandra ganz für sich«, presst sie schließlich wütend hervor, »er hat sie behandelt wie sein Eigentum, wie eine Sklavin. Sie musste ständig üben, immer wieder die gleichen Stücke, sauschweres Zeug von Bach. Sandra hat mal gesagt, dass sie überhaupt keine Lust mehr hat und dass er ihr das Cellospielen vollkommen verleidet. Sie hatte keine Lust mehr auf ihn und auch nicht auf Bach, wollte lieber mit uns in der Band spielen. Sandra hat mir erzählt, dass Gerlach ihr deswegen immer wieder Szenen gemacht hat, weil er nicht wollte, dass sie diese billige Musik spielt. Er wollte auch nicht, dass sie mit Rizzo zusammen ist, er hat ihm die Schuld dafür gegeben, dass sie keinen Bock mehr auf die Klassik hatte und hat sogar gedroht, er würde dafür sorgen, dass Rizzo von der Schule fliegt. Aber was dann passiert ist, ist ja viel schlimmer gewesen!«
Schon laufen die Tränen wieder über Heikes Gesicht und lassen die Sommersprossen auf ihren Wangen aussehen wie flache Kieselsteine in einem Flussdelta. Zoe kramt in ihrer Schultertasche und reicht ihr eine Packung Tempos über den Bücherstapel auf dem Verkaufstresen.
»Aber das allein war nicht der Grund, weshalb Sie Ihren Lehrer bezichtigt haben, Sie sexuell genötigt zu haben, oder?«
Schniefen. Schweigen. Langes Schweigen, das einmal kurz von der Türglocke unterbrochen wird. Ein junger Mann will wissen, ob es hier auch den Kicker zu kaufen gibt, macht aber auf dem Absatz kehrt, als er die heulende Frau hinter dem Kassentresen und die zwei anderen davor stehen sieht. Fußballfans lassen sich ihre Partylaune nur ungern verderben.
»Heike, was ist passiert? Was hat Sie dazu gebracht, Herrn Gerlach bei der Polizei anzuschwärzen?«
Man kann das Holz arbeiten hören. Die alten Balken des Hauses knacken vor Trockenheit und reißen beim Versuch, sich noch weiter in sich selbst zurückzuziehen, winzige Risse in Kalk und Zement, kaum hörbar knirschen die Wände, als könnten sie die Last der Jahre nicht mehr tragen – oder ertragen. Leise, sehr leise schwebt Heikes Stimme darüber, so wie ein feiner Wind, der ausreicht, ein Kartenhaus zum Einsturz zu bringen.
»Sie hätten ihr Gesicht sehen sollen. Sie hätten Sandra sehen sollen an diesem Abend. Er hat etwas mit ihr gemacht, sie hat nichts gesagt, aber ich bin ganz sicher. Sie wollte weg, musste weg, hatte furchtbare Angst. Ich weiß, dass er ihr etwas angetan hat, dieses Schwein. Sollte er damit denn durchkommen?«
Heike schreit und weint und zittert am ganzen Leib. Der Damm ist gebrochen, die Flut bahnt sich ihren Weg und die alten Balken stöhnen vor Erleichterung über das viele Nass.
*
Der Kalz kann Szenen nicht ausstehen, schon gar nicht, wenn daran Frauen beteiligt sind, und ganz übel wird es, wenn diese Frauen auch noch schreien und heulen, dass einem die Ohren nur so klingeln. Monika weiß das, schließlich ist sie lang genug mit ihm verheiratet. Deshalb hatte sie auch keine Szene gemacht, hatte nicht geschrien, nicht geheult, nicht einmal die Stimme erhoben, war ganz im Gegenteil sachlich und kühl, als sie ihm mitteilte, was sie offenbar schon lang, sehr lang in sich verwahrt hatte. Aber es war dieser Freitagabend gewesen, dieser glühend heiße Freitagabend, an dem die Menschen so gut wie überall auf der Welt vor den Fernsehgeräten fieberten und sich auf das Spiel Ghana gegen Uruguay freuten, an dem sie die Bombe platzen ließ. Gestern Abend war die letzte Bastion gefallen – diejenige, die Kalz für unerschütterlich gehalten hatte. Sie war nicht nur gefallen, sie war, während er sich in Pilsen befand, in Trümmer gelegt worden. Geschleift. Das Reihenhaus in Großreuth war kein gemeinsames Haus mehr. Monika musste die halbe Nacht und den ganzen folgenden Tag gearbeitet haben, um das gemeinsame Schlafzimmer
Weitere Kostenlose Bücher