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Blaulicht

Blaulicht

Titel: Blaulicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nacke
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Traum vom Lebendigbegrabenwerden. Vielleicht rede ich deswegen die ganze Zeit von Poe. Seit meiner Kindheit hatte ich diesen Traum nicht mehr. Ich bin davon aufgewacht, dass ich mich im Bett herumgeworfen hab wie eine Wahnsinnige, weil ich mich bemerkbar machen wollte, Geräusche machen, gegen das Holz schlagen, damit man merkt, dass ich lebendig bin. Stattdessen habe ich nur gehört, wie eine Schaufel voll Erde nach der anderen auf den Sargdeckel fällt. Und ich bin noch nicht draufgekommen, warum mich dieser Traum nach so langer Zeit wieder heimgesucht hat.«
    Zum ersten Mal hört sie ein Wort aus Sandras Mund.
    »Genug! Genug, genug, genug!«
    Die kargen Worte, die folgen, ertrinken in Rotz, Schleim, Tränen.
    Du denkst, verdursten ist der schlimmste Tod – du irrst dich, Frau.
    Als Kascha das Zimmer verlässt, muss sie sich kurz an der Wand abstützen. Ihr ist schwindlig, das gelbe Leinenkleid klebt an ihrem Rücken. Sie ist durstig, braucht Luft. Vor dem Pavillon, in dem die Cafeteria untergebracht ist, liegt eine tote Amsel im vertrockneten Gras. Ameisen laufen über den schwarzen Körper.
     
    *
     
    Kurz nachdem Zoe sich von Kascha verabschiedet hat, schießt ihr einer der banalsten Gedanken durch den Kopf, die man denken kann:  Heute ist Samstag.  Banal, aber von großer Tragweite.  Heute ist Samstag  ruft in Zoe die vage Erinnerung daran wach, dass irgendjemand sie vor ein paar Tagen zur Halbfinalefete eingeladen hat. Bloß wer? Sie kann sich beim besten Willen nicht mehr erinnern.  Heute ist Samstag  heißt auch, dass ihr Abteil im WG-Kühlschrank dringend einer Auffüllung bedarf, und schließlich stellt  heute ist Samstag  die Frage: Warum arbeitest du heute überhaupt?
    Während Zoe die Leonhardstraße entlangradelt, die Gostenhofer ist mit Fußballfans bevölkert und quasi unpassierbar, fragt sie sich einige Augenblicke lang, ob ihr Einsatz womöglich eine unbewusste Reaktion auf diverse Bemerkungen seitens Kalz ist – als hätte sie den Ehrgeiz entwickelt, vor diesem Zyniker das gesamte griechische Volk zu rehabilitieren. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte sie nach dem Abschied von Kascha ihr Fahrrad gepackt, um ins Präsidium zu fahren. Wer kann nicht loslassen – sie? Oder doch der Fall, der als scheinbare Routineangelegenheit nach ihr, der Anfängerin, gegriffen und sich zu einer unübersichtlichen Geschichte entwickelt hat? Wenn das ihr ganzes Leben lang so weitergehen sollte, dass sie von ihrem Job nicht abschalten kann, dann, so konstatiert sie, liegt sie in spätestens fünf Jahren mit Burnout-Syndrom in irgendeiner Kurklinik. Und so ändert Zoe in der Ludwigstraße noch einmal die Richtung und steuert den Marktkauf am Plärrer an. Das ist Verrat an dem griechischen Lebensmittelgeschäft, das gleich um die Ecke liegt, aber es geht ums Überleben: Die Temperatur in der Marktkauf-Lebensmittelabteilung liegt deutlich unterhalb der herrschenden fünfunddreißig Grad, unter deren Einfluss selbst das Denken zur schweißtreibenden Anstrengung wird.
    Ohne den mindesten Überblick über die häusliche Vorratssituation legt Zoe ein Sortiment von Dingen in den Einkaufswagen, die man für die leibliche Grundversorgung immer irgendwie brauchen kann, und nähert sich den Kühlregalen, die sie eine Weile umkreist. Dabei kommt ihr Verstand wieder in Gang, aber vorerst ebenfalls nur in kreisförmigen Bewegungen rund um Gerlach. Den hätte sie heute ins Visier genommen, wäre Kalz nicht gestern Abend bei ihm gewesen, und der hat garantiert keinen wunden Punkt ausgelassen. Ob er seinen Besuch noch schriftlich fixiert hat? Gestern Nachmittag, rekapituliert Zoe in Gedanken, hatte er einen Anruf aus Pilsen bekommen und erfahren, dass Gerlach sich einige Male dort aufgehalten hat. Aber hatte das etwas zu sagen?
    Zoe starrt auf die vielen verlockenden Dinge, die das Kühlregal bereithält, und die draußen den sicheren Tod durch vorzeitig eintretenden Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums erleiden würden.
    »Bitte entschuldigen Sie!«
    Zoe zuckt zusammen. Eine kleine, alte, bekopftuchte Dame hält ihr einen Fruchtdrink vor die Nase und fragt mit osteuropäischem Akzent: »Ist das Himbeere?«
    »Nein, das ist Pfirsich. Himbeere ist da. Wie viele brauchen Sie denn? Eine Flasche, zwei?« Zoe greift ins Kühlregal. Die Alte starrt auf den Zettel in ihrer Hand.
    »Nein, sechs. Und noch sechsmal Banane.«
    Mit wenigen raschen Handgriffen verschwinden die Flaschen in den Tiefen einer Einkaufstasche auf

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