Blaulicht
die Tafel gezeichnet hat – rote, grüne, blaue, schwarze Linien – dazwischen Fragezeichen, eines nach dem anderen. So viele Fragezeichen, und alle rot. So viele schreiend rote Fragezeichen!
»Kascha, bitte beruhige dich! Ich werde uns jetzt einen Metaxa aus Mattuschs Büro holen. Den hatte ich zwar zum Einstand mitgebracht, aber wir beide brauchen ihn jetzt dringender.«
Als sie kurze Zeit darauf wiederkommt, sitzt Kascha auf der Fensterbank und hat den Kopf in den Nacken gelegt. Zoe reicht ihr das Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
»Jamas, Kascha!«
»Jamas, Zoe! Und bitte entschuldigen Sie. War ein heftiger Tag heute – ein etwas zu heftiger.«
»Wollen wir nicht beim ›Du‹ bleiben? Ich weiß, eigentlich müssten Sie …«
»Lass uns ganz einfach beim ›Du‹ bleiben, Zoe.«
Eine Weile lang schauen die beiden Frauen aus dem Fenster, hinüber zum Bäckerhof , vor dessen Open-Air-Cocktailbar sich eine bunte Menschentraube versammelt hat. Sommerkleider leuchten mit rotgoldenen Kissenbezügen in der Sonne um die Wette und kontrastieren wundervoll zum dunklen Holz der Möbel. Der Duft von gegrilltem Fleisch und Kräutern erfüllt die Luft. Die ganze Szenerie erinnert an einen Bacardi-Werbespot – nur das Meer fehlt und der Strand.
»Kascha?«
»Ja.«
»Du hattest gerade etwas von Blaulicht und Scherben erwähnt, etwas, das Sandra offenbar heute Nachmittag von sich gegeben hat – meinst du, ich könnte mir die Aufzeichnungen einmal anhören?«*
Ich habe ein blaues Licht gesehen, mein kleiner, trauriger Vogel, aber es war ein anderes, als du gesehen hast, nicht wahr? Du hast nicht gewusst, ob du wach bist oder träumst. Weißt immer noch nicht, ob sich nur ein leuchtend blaues Traumbild in deine Erinnerung gebrannt hat und jetzt vor deinen Augen tanzt – egal, ob sie offen oder geschlossen sind, ob du wach bist oder schläfst – das blaue Licht hört nicht auf zu tanzen wie ein Irrlicht im ewigen, im unendlichen Moor. Schwarz, so viel Schwarz. Nichts außer Schwärze und ein grelles blaues Licht darin. Genau so etwas habe ich auch gesehen, aber ich wusste, dass ich nicht geträumt hatte. Die Menschen haben gedacht, es wären die Geister der Verstorbenen, die sie mit blauem Schein ins Moor locken. Sie sind ihnen gefolgt, der Boden wurde weicher und immer weicher, die Lichter haben getanzt, so schön getanzt. Erst wurden die Zehen nass, dann hat das Schwarz nach den Waden geschnappt. Irgendwann steckten sie bis zu den Hüften im Schwarz und wollten immer noch nach den kleinen blauen Lichtern greifen. Sie streckten ihre Arme aus danach, sie riefen nach ihnen. Dann wurde auch das Rufen zur Qual, weil das Moor so schwer ist, wenn es sich wie ein Stahlreif um den Brustkorb legt. Aber die Lichter, die schönen blauen Lichter, haben weitergetanzt.
Du lebst, mein geliebter schwarzer Vogel! Dein blaues Licht ist so anders als meines!
*
Zoe und Kascha hatten sich die Aufnahmen aufmerksam angehört. Viel Verständliches war nicht darauf, lediglich Kaschas unfruchtbare Kommunikationsversuche mit einer Sandra, die selbst aus dem Diktiergerät heraus noch vollkommen weggetreten wirkte, gefangen zu sein schien in einer grauenhaften Welt, in einem Alptraum. Ihre Schreie, die Worte, die sie ausstieß, waren nur in ihrer Traumwelt Schreie und Worte. In der Welt der Wachen und in deren Ohren klangen sie wie Stöhnen, wie Winseln, wie hastig genuschelte Wortfetzen. Verzerrt, gedämpft, meilenweit entfernt, isoliert hinter einer ebenso unsichtbaren wie undurchdringlichen Wand. Nur wenige Worte bahnten sich trotzig einen Weg von der einen in die andere Welt, tauchten auf aus dem rabenschwarzen Meer des zornigen Morpheus, drückten von innen gegen die zähe Wand, beulten sie aus, stießen hindurch und platzten als Vertreter einer anderen Dimension nur für kurze Augenblicke in die Realität.
»Bitte, nein!« hießen sie, »Ich kann nicht!« hießen sie, bevor sie erstarben und anderen Raum gaben, die auch hinauf wollten an die Luft, an den Tag. »Das Licht« hießen sie, immer wieder drang »das Licht« an die Oberfläche, »das blaue Licht«, »blaues Licht!«. Das blaue Licht wurde verschluckt von trockenem Schluchzen, von Wimmern, von Schreien, die auch endlich nach oben wollten, und vom rasenden Atem, der davon erzählt, wie es ist zu ertrinken. Und bevor nichts mehr kam, kurz bevor das leise Knacksen der Stopptaste das unsichtbare Band zwischen dieser und der anderen Welt durchtrennte,
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