Blaulicht
kamen »die Scherben«, »die vielen Scherben – oh mein Gott!«
Kascha hatte sich irgendwann verabschiedet, sie konnte einfach nicht mehr, hatte Zoe das Gerät mit der Bitte dagelassen, es ihr im Laufe des morgigen Vormittags zurückzubringen, und Zoe hatte es ein ums andere Mal zurückgespult, vorlaufen lassen, gestoppt und wieder zurückgespult.
Was bedeutet »Das blaue Licht«, »die vielen Scherben«? Sabine Hartung hatte von ungewöhnlich vielen Glasscherben erzählt, die man in der Kleidung des toten Moritz Rißmann gefunden hatte. Bestand da ein Zusammenhang? Und wenn ja, welcher? War Sandra dabeigewesen, als Moritz Rißmann starb? Ist das alles nur ein Zufall, die verwirrte Phantasie eines seelisch kranken und zudem narkotisierten Mädchens? Oder schlimmer noch: die überbordende Phantasie einer übereifrigen Ermittlerin?
Und ja, sie hatte es sich lange überlegt, hatte auch einen weiteren Metaxa getrunken, um nüchtern zu werden. Sie hatte sich die Fragen, die sie Gerlach stellen wollte, sogar notiert: »Sandra spricht von Splittern und blauem Licht. Haben Sie eine Erklärung dafür?« »Sandra Kovács hat auf Ihren Brief panisch reagiert. Ebenso auf die Nachricht, dass Sie am Leben sind. Warum hat sie Angst vor Ihnen?«
Sie hatte auch darüber nachgedacht, ob sie sich in den Augen der Kollegen vielleicht schon lächerlich machte – auch ein Martin Kalz brachte es schließlich fertig, die Dinge liegen zu lassen und sich seinen Freizeitbeschäftigungen zu widmen. Oder ob sie sich innerhalb der letzten fünf Tage in genau die Figur verwandelt hatte, die sie während ihrer Schulzeit gehasst hatte – eine übereifrige Streberin.
Und was würde Gerlach schon antworten? »Phantasien einer Drogensüchtigen, die jeden Kontakt zur Realität verloren hat.«
Selbst ein Martin Kalz hatte bei ihm auf Granit gebissen, warum bildete sie sich ein, weiter vorzudringen?
Sie würde, nein, müsste genauer auf das »wie« denn auf das »was« hören, jedes Zögern registrieren, jedes Atemholen, jede zu hastig oder zu wohlüberlegt gegebene Antwort, jedes Zwinkern, jedes Stirnrunzeln, jedes stimmliche Ausgleiten. Hier war die feine Psychologie einer Patricia Highsmith angebracht, die neurotische Akribie eines Conan-Doyle-Helden, keine knuffige Miss Marple und erst recht kein nassforscher Philip Marlowe.
Und was war sie außer einer Anfängerin? Eine Anfängerin mit zwei Metaxa im Blut! Trotzdem war sie schließlich doch noch ins Klinikum geradelt. Diese eine Sache noch für heute, dann Schluss, Ende, Feierabend.
Und jetzt steht sie fassungslos vor der Stationsleiterin und muss die Auskunft verdauen, dass Gerlach weg ist, sich auf eigene Verantwortung aus dem Krankenhaus entlassen hat.
»So was kommt öfter vor. Wenn ein Patient sich fit genug fühlt und meint, er kann nach Hause, dann soll er ruhig. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.«
»Und wann genau ist er – ?«
Die kantige Frau mit dem Kurzhaarschnitt zuckt die Schultern und wirft einen gleichgültigen Blick auf die Uhr.
»Kann zwei Stunden her sein.«
»Haben Sie denn keine Akte, wo das festgehalten ist?«
Ein Patientenbogen wird aus der Ablage gezogen.
»Sechzehn Uhr fünfzehn. Aber jetzt entschuldigen Sie mich. Zwei Kräfte sind ausgefallen heute Nachmittag. Ich hab noch einiges zu tun.«
Kaum zwei Minuten später tritt Zoe wieder in die Pedale und erreicht nach fünf Minuten den Schauplatz vom Dienstagnachmittag. Kurz ist sie irritiert von aufbrandenden Jubelschreien zu beiden Seiten der Straße – aber die gelten nicht ihrer sportlichen Leistung, sondern der Nationalelf. Abpfiff!
*
Das erste, was durch das Telefon an Frau Dr. Halbritters Ohr dringt, ist eine schätzungsweise fünfzigstimmige Vuvuzelakakophonie.
»Helmut! Kannst du mich hören?«
Mit Mühe kann sie schließlich Mattuschs Stimme erkennen und mit noch mehr Mühe verstehen, dass er sich im Hummelsteiner Park befinde und soeben einen fulminanten Vier-zu-null-Sieg der deutschen Mannschaft erlebt habe.
»Wir müssen uns unbedingt treffen. Jetzt gleich.«
»Wo bist du?«
»Ich lieg auf meinem Sofa, und das werde ich heute nicht mehr verlassen. Außer natürlich, um dir die Tür zu öffnen.«
»Kascha, wie stellst du dir das vor? Auf den Straßen ist jetzt gleich die Hölle los!«
»Dann nimmst du eben die U-Bahn. Es ist wirklich wichtig!«
Daran zweifelt Mattusch keine Sekunde. Nur fragt er sich in diesem Augenblick, warum »wichtig« stets »unangenehm«
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