Blaulicht
dass der Gerlach sich womöglich doch an manchen seiner Schülerinnen vergreift. Auch für mich ist das durchaus noch eine offene Frage. Nur – Leonie Kovács ist schon seit Jahren Schülerin vom Gerlach, und ganz offensichtlich ist da nichts vorgefallen. Die scheint sich sogar ganz wohl zu fühlen bei dem. Gestern ist sie kurz vor mir beim Gerlach gewesen, hat ihm Blumen gebracht und ein Grußkärtchen dazu. Und falls mit ihrer Schwester etwas gewesen sein sollte – mein Gott, die hätte ja Anzeige erstatten können. Vielleicht tut sie’s noch, wenn Frau Dr. Halbritter sie irgendwann so weit hat, dass sie den Mund aufmacht. Ich geb Ihnen einen Rat: Machen Sie sich noch ein schönes Wochenende, schalten Sie zur Abwechslung mal ab von der Geschichte, und am Montag krempeln wir wieder die Ärmel hoch. Ich meine, nur weil Sie aus Griechenland kommen, müssen Sie sich ja nicht gleich überassimilieren.«
Nach einem kurzen »Tschüs!« bricht Martin Kalz diesmal wirklich auf und hinterlässt eine Zoe, die sich erstmals seit Dienstag unendlich matt fühlt – gerade jetzt, wo sie das Gefühl niederkämpfen müsste, für diesen Job untauglich zu sein.
*
Die Stadt liegt wieder mal im Fußballstarrkrampf. Auf den Straßen fahren kaum noch Autos, es herrscht eine spanisch anmutende Siestaruhe, die nur von gelegentlichen Freudenheulern und Getröte unterbrochen wird. Selbst die Luft hat sich der Lage angepasst. Sie steht heiß und vollkommen unbewegt zwischen den Sandsteinmauern, ganz selten nur erhebt sich ein schlapper Wind – die angekündigten gewittrigen Böen lassen jedenfalls auf sich warten, und die knisternde Nervosität im Büro geht eindeutig von Zoe aus, nicht von einer herannahenden Gewitterfront.
Kascha hat die Füße ganz entgegen ihrer Gewohnheit auf den Schreibtisch gelegt – »entschuldige, Zoe, aber ich habe das Gefühl, mir hätte jemand Blei in die Beine gepumpt!«
Die Psychologin wirkt vollkommen erschöpft, abgekämpft und fächert sich mit einer Ausgabe von Bayerns Polizei brühwarme Luft ins Gesicht, bis ihr auch das zu anstrengend wird – Kühlung bringt es sowieso nicht. Der Wahnsinn scheint die Stadt in seinen Fängen zu halten und fordert von allen Tribut, denkt sie. Was sie nicht wissen kann: Vor einer halben Stunde, gleich nach dem Anpfiff, hatte sich ein algerischer Taxifahrer über einen Mann im zu kurzen Bademantel gewundert, der zu ihm in den Wagen stieg. Aber Allahs Wege sind unergründlich und Fußball macht die Menschen eben verrückt.
Zoe hatte schon auf Kaschas Mailbox gesprochen und erzählt, was sie im Ballettforum gefunden hatte, und Kascha hatte sich die Nachrichten in Leonies Forumspostfach noch einmal ganz genau durchgelesen, schließlich mit den Schultern gezuckt und auch auf Zoes spärliche Neuigkeiten aus Tschechien und die Information von Fabian zunächst einmal verhalten reagiert. Dank ihrer langen Berufserfahrung weiß sie, dass es leichter ist, sich zu verkrampfen als zu entspannen und dass Krampf jegliche Form von konstruktivem Denken lähmt. Aus genau diesem Grund hat sie Zoe auch nur ganz knapp von ihrem erneuten Besuch bei Sandra erzählt – einer Sandra, die abermals ans Bett fixiert und betäubt worden war und deren verzweifeltes Gelalle man kaum verstehen konnte.
Der Anruf des Stationsarztes war nur knapp zwei Stunden, nachdem sie das Klinikum zum ersten Mal an diesem Tag verlassen hatte, gekommen. Es sei ernst, Sandra habe erneut eine Krise, hatte Dr. Weller gesagt, und dass es besser wäre, sie käme gleich vorbei. Also hatte sie sich wieder aufgemacht, war ins Nordklinikum gefahren und hatte hilflos vor Sandras Bett gestanden. Dass sie Wolfgang Gerlach anschließend ebenfalls einen Besuch abgestattet hatte, verschweigt Kascha der Kripobeamtin vorsichtshalber, erwähnt aber dessen Brief, den sie an sich genommen hat. Ein Stück Papier im DIN-A4-Format, endlich etwas, das man greifen, das man anpacken kann. Trotzdem ist das, was darauf transportiert werden sollte, die Botschaft, die dahinter steckt, alles andere als greifbar, ist, im Gegenteil, wieder mal nur ein Steinchen in einem brüchigen Mosaik aus Vermutungen, Befürchtungen, Intuition und Spekulation. Genau das, wovon es in diesem Fall bereits wimmelt, während man konkrete Indizien mit der Lupe suchen muss.
»Zoe, ich weiß, was du vermutest, aber nichts davon ist konkret, ganz im Gegenteil – es löst sich auf, wenn man versucht, es anzufassen. Du nimmst an, dass Gerlach Sandra
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