Blausäure
wegen der Reitpferde und behandelte Lucilla mit dem Respekt, der ihrem Alter gebührte.
Niemand aber wusste, was sich hinter der Maske ihres blassen, lächelnden Gesichts verbarg. Was mochte sie in Wirklichkeit denken? Eine Frau wie eine Sphinx.
Stephen bekamen sie weniger zu Gesicht. Er war sehr beschäftigt, viel in Sachen Politik unterwegs. Für Iris stand fest, dass er es, so gut es ging, absichtlich vermied, ihnen zu begegnen.
So ging der August ins Land und dann der September. Sie beschlossen, im Oktober nach London zurückzukehren.
Iris atmete auf vor Erleichterung. Vielleicht würde George in London wieder der Alte sein.
Aber dann war sie in der vergangenen Nacht von einem leisen Klopfen an ihrer Tür geweckt worden. Sie knipste das Licht an und sah auf die Uhr. Erst eins. Da sie um halb elf zu Bett gegangen war, war es ihr schon viel später erschienen.
Sie schlüpfte in ihren Hausmantel und ging zur Tür. Das schien ihr freundlicher, als nur «Herein!» zu rufen.
Vor ihr stand George. Er trug noch den Abendanzug, hatte noch gar nicht geschlafen. Sein Atem ging unregelmäßig, und sein Gesicht sah ungesund und bläulich aus.
«Komm doch bitte runter in die Bibliothek, Iris», bat er. «Ich muss mit dir sprechen – muss mit jemandem reden.»
Verwundert und schlaftrunken folgte sie ihm.
In der Bibliothek schloss er die Tür und rückte ihr einen Stuhl am Schreibtisch zurecht, gegenüber von seinem Platz. Er hielt ihr das Zigarettenetui hin, nahm sich selbst eine Zigarette heraus und versuchte mit fahrigen Händen, sie anzuzünden. Es klappte erst beim zweiten oder dritten Versuch.
«Ist etwas passiert, George?», fragte sie.
Sie war jetzt wirklich alarmiert. Er sah aus wie ein Gespenst.
George japste beim Sprechen, als wäre er zu schnell gelaufen.
«Ich ertrag’s nicht länger. Ich kann’s nicht mehr für mich behalten. Du musst mir sagen, was du denkst – ob es wahr sein kann – ob es möglich ist – »
«Aber wovon redest du denn, George?»
«Du musst doch was bemerkt haben! Gesehen! Dich an was erinnern, was sie mal gesagt hat. Es muss doch einen Grund geben – »
Sie starrte ihn an.
Er wischte sich mit der Hand über die Stirn.
«Du verstehst nicht, wovon ich spreche. Ich seh’s. Aber nun guck doch nicht so ängstlich, Mädchen! Du musst mir helfen! Musst dich an jede verdammte Kleinigkeit erinnern! Ja, ja, ich weiß, jetzt denkst du, ich bin übergeschnappt, aber du wirst mich gleich verstehen – guck dir mal diese Briefe an.»
Er schloss eine Schublade an der Seite seines Schreibtisches auf und nahm zwei einzelne Briefbogen heraus.
Sie waren von blassem, harmlosem Blau, und darauf standen wenige Worte in steifen, kleinen Druckbuchstaben.
«Lies das», sagte George.
Iris starrte auf das Papier. Die Botschaft war unmissverständlich und schnörkellos:
Sie glauben, Ihre Frau habe Selbstmord begangen? Nein! Sie wurde ermordet.
Auf dem zweiten Blatt stand:
Ihre Frau Rosemary hat sich nicht umgebracht. Es war Mord.
«Die kamen vor ungefähr drei Monaten», erzählte George, während Iris noch auf die Schrift starrte. «Zuerst hab ich’s für einen Witz gehalten – einen grausamen, kranken Witz. Dann habe ich angefangen nachzudenken. Warum hätte sie sich umbringen sollen?»
Mechanisch gab Iris die Antwort:
«Depression nach einer Grippe.»
«Ach, entschuldige mal, das ist doch alles Quatsch! Überleg mal, wie viele Leute Grippe haben und sich hinterher ein bisschen deprimiert fühlen – was?»
«Vielleicht war sie – unglücklich?»
Es kostete Iris Überwindung, das zu sagen, aber George nahm es ziemlich gefasst auf.
«Na ja, vermutlich war sie’s. Trotzdem versteh ich nicht, wieso Rosemary sich deswegen hätte umbringen sollen. Vielleicht hätte sie damit gedroht, aber ich glaube einfach nicht, dass sie der Typ war, der es wirklich ausgeführt hätte.»
«Aber sie muss es doch getan haben, George! Eine andere Erklärung gibt es nicht. Die haben das Zeug ja sogar in ihrer Handtasche gefunden.»
«Ich weiß. Es gibt da einen Zusammenhang. Seitdem dies hier gekommen ist» – er schnippte mit dem Fingernagel gegen die anonymen Briefe – «seitdem hab ich im Geist alles um und um gedreht. Und je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass da was dahintersteckt. Deshalb hab ich dir all diese Fragen gestellt – ob sie Feinde hatte und so. Ob sie vor jemandem Angst hatte und ob sie je etwas in dieser Richtung angedeutet hat. Wer
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