Blausäure
allerdings ein starkes Stück von ihm gewesen. George Barton war überhaupt ein merkwürdiger Mann. Nicht unbedingt der Typ, den sie gern zum Nachbarn hatte. Seine Anwesenheit in Little Priors hatte ihr den friedlichen Zauber von Fairhaven verdorben. Bis zu diesem Sommer hatte Fairhaven für sie ein Stück heile Welt bedeutet, hier waren sie und Stephen glücklich gewesen – vorausgesetzt, sie waren überhaupt je glücklich gewesen?
Sie presste die Lippen zusammen. Ja, tausendmal ja! Sie hätten glücklich sein können, wäre Rosemary nicht gewesen. Rosemary war schuld daran, dass das zerbrechliche Gebäude aus Vertrauen und Zärtlichkeit, an dem Stephen und sie zu bauen begonnen hatten, eingestürzt war. Irgendetwas, irgendein Instinkt, hatte sie die leidenschaftliche Hingabe, die sie für Stephen empfand, vor ihm geheim halten lassen. Sie hatte ihn von Anfang an geliebt, seit jenem Augenblick, als er auf dem Empfang auf sie zukam und so tat, als wäre er schüchtern, so tat, als wüsste er nicht, wer sie sei.
Er hatte es sehr wohl gewusst. Sie konnte nicht mehr sagen, wann genau sie dieses Wissen für sich akzeptierte. Irgendwann nach ihrer Hochzeit hatte er ihr eines Tages einen geschickten politischen Schachzug erklärt, mit dessen Hilfe ein Gesetz durchgebracht worden war.
Wie ein Blitz war ihr der Gedanke gekommen: «Dies erinnert mich an irgendetwas. Woran nur?» Später erkannte sie, dass die Taktik im Prinzip dieselbe war wie die, die er auf dem Empfang in ihrem Elternhaus angewandt hatte. Sie nahm es ohne Überraschung hin, als hätte sie es immer schon gewusst, aber als sei es ihr erst jetzt richtig zu Bewusstsein gekommen.
Seit dem Tag ihrer Hochzeit hatte sie auch gewusst, dass er sie nicht in dem Maße liebte wie sie ihn. Aber sie hielt es für möglich, dass er zu einer solchen Liebe gar nicht fähig war. Und dass die Kraft zu lieben ihr eigenes unglückliches Erbteil wäre. Sie liebte mit einer solchen Verzweiflung und Intensität, wie sie für ihr Geschlecht, dachte sie, wohl eher untypisch waren. Sie wäre bereit gewesen, für ihn zu sterben; zu lügen, zu intrigieren und zu leiden! Stattdessen übernahm sie mit Stolz und Diskretion die Rolle, die er für sie vorgesehen hatte. Er wollte ihre Kooperation, ihre Anteilnahme, ihre praktische und intellektuelle Hilfe. Er wollte nicht ihr Herz, sondern ihren Verstand – und jene materiellen Vorteile, die sie ihrer Herkunft verdankte.
Eines aber hatte sie sich vorgenommen: Sie wollte ihn niemals in Verlegenheit bringen, indem sie ihm eine Hingabe zeigte, die zu erwidern ihm nicht möglich war. Und sie glaubte aufrichtig daran, dass er sie mochte und ihre Gesellschaft schätzte. Sie glaubte an eine Zukunft, in der die Last einseitiger Leidenschaft mehr und mehr von ihr abfiele – eine Zukunft voller Zärtlichkeit und Freundschaft.
Er liebte sie auf seine Weise, das wusste sie.
Aber dann kam Rosemary.
Manchmal fragte sie sich – und ihre Lippen verzerrten sich schmerzhaft dabei –, wie er sich einbilden konnte, sie wüsste es nicht. Vom ersten Augenblick an – da oben in Sankt Moritz – hatte sie es gewusst, seit sie zum ersten Mal mit angesehen hatte, was für Blicke er dieser Frau zuwarf.
Sie hatte genau gewusst, an welchem Tag diese Frau seine Geliebte geworden war.
Sie kannte sogar den Duft, den die Schlange benutzte…
Und wenn Stephen noch so höflich dreinschaute, sie konnte ihm seine Gedanken und Erinnerungen haargenau von den Augen ablesen, wenn er an – diese Frau dachte – diese Frau, von der er gerade kam!
Es war schwer, dachte sie jetzt leidenschaftslos, das ganze Leid zu ermessen, das sie durchgemacht hatte. Sie hatte es ausgehalten, Tag für Tag, hatte die Qualen der Verdammten durchlitten, und nur der Glaube an ihren Mut, ihr angeborener Stolz hatten sie aufrechterhalten. Sie hatte sich nichts anmerken lassen, würde sich niemals anmerken lassen, was sie empfand. Sie magerte ab, wurde dünn und blass. Ihre Gesichtshaut spannte sich straff über den Wangenknochen, und auch die Schulterblätter traten deutlicher hervor. Sie zwang sich zum Essen, aber den Schlaf zwang sie nicht herbei. Nächtelang lag sie wach und starrte mit trockenen Augen in die Dunkelheit. Schlaftabletten zu schlucken verachtete sie als Schwäche. Sie würde ausharren. Sich verletzt zu zeigen, zu flehen oder zu toben – all das wäre ihr ein Gräuel gewesen.
Ein kleiner Strohhalm blieb ihr, an den sie sich festklammern konnte – Stephen machte keine
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