Blausäure
das, worüber man gern spricht», sagte sie. «Aber ich denke, Sie sollten es besser wissen. Ich habe George Barton geliebt. Ich habe ihn schon geliebt, lange bevor er Rosemary kennen lernte. Ich glaube nicht, dass er es je wusste – und gewiss bedeutete es ihm nichts. Er mochte mich – mochte mich sehr – aber wohl nicht auf diese Weise. Und doch habe ich immer gedacht, dass ich ihm eine gute Frau gewesen wäre – dass ich ihn glücklich gemacht hätte. Er liebte Rosemary, aber glücklich war er mit ihr nicht.»
«Und Sie mochten Rosemary nicht?», fragte Race freundlich.
«Nein, überhaupt nicht. O! Sie war so anmutig und attraktiv und konnte auf ihre Weise so liebenswürdig sein. Allerdings nicht liebenswürdig zu mir! Nein, ich mochte sie nicht. Ich war entsetzt, als sie starb – und über die Art und Weise, wie sie starb, aber es tat mir nicht besonders Leid. Ich muss leider zugeben, dass ich sogar froh war.»
Sie hielt inne.
«Bitte, können wir nicht über etwas anderes reden?»
Race antwortete schnell:
«Ich möchte Sie bitten, mir – ganz genau und detailliert – alles zu erzählen, was Sie von gestern in Erinnerung haben – vom frühen Morgen an – besonders alles, was George gesagt oder getan hat.»
Ruth antwortete, ohne zu zögern, und ging die Ereignisse des Vormittags durch – Georges Ärger über Victors neuerliche Zudringlichkeit, ihre eigenen Telefonate nach Südamerika, die getroffenen Arrangements und Georges Befriedigung, nachdem die Sache erledigt war. Dann beschrieb sie ihr Eintreffen im Luxembourg, und wie erregt und nervös George als Gastgeber gewesen war. Sie brachte ihre Erzählung bis zum Schluss der Tragödie. Ihre Darstellung entsprach dem bereits Gehörten in jeder Hinsicht.
Mit einem besorgten Stirnrunzeln sprach Ruth sodann Race’ eigene Verblüffung aus.
«Es war kein Selbstmord – dessen bin ich sicher – aber wie kann es sich um Mord handeln? Ich meine, wie soll es durchgeführt worden sein? Die Antwort lautet, dass es nicht ging, nicht durch einen von uns! Hat also vielleicht jemand das Gift in Georges Glas getan, als wir alle gerade beim Tanzen waren? Aber wenn es so war, wer sollte das gewesen sein? Es ergibt alles keinen Sinn.»
«Die Beweislage sieht so aus, dass niemand in die Nähe des Tisches kam, als Sie alle tanzten.»
«Dann ergibt es wirklich keinen Sinn! Zyankali kommt nicht von selbst in ein Glas!»
«Haben Sie denn überhaupt keine Ahnung – nicht einmal den geringsten Verdacht –, wer das Zyankali in sein Glas geschüttet haben könnte? Gehen Sie den Abend noch einmal durch! Gibt es gar nichts, kein noch so winziges Ereignis, das in Ihnen irgendeinen Verdacht erweckt, wie geringfügig auch immer?»
Er sah eine Veränderung in ihrem Gesicht, sah einen Augenblick lang einen Anflug von Unsicherheit in ihre Augen treten. Es gab eine winzige, fast unmerkliche Pause, ehe sie antwortete:
«Nichts.»
Also hatte es etwas gegeben. Er war sich ganz sicher. Etwas hatte sie gesehen oder gehört oder bemerkt, wollte es aber, aus welchem Grund auch immer, nicht preisgeben.
Er drängte sie nicht. Er wusste, dass das bei einer Frau wie Ruth keinen Zweck hatte. Wenn sie sich aus einem bestimmten Grund entschlossen hatte zu schweigen, würde sie sich sicherlich nicht umstimmen lassen.
Aber gegeben hatte es etwas. Das Wissen munterte ihn auf und gab ihm neue Bestätigung. Es war das erste Anzeichen eines Risses in der glatten Mauer, der er sich gegenübersah.
Nach dem Essen verabschiedete er sich von Ruth und machte sich auf den Weg zum Elvaston Square. Während der Fahrt dachte er über sie nach.
War es möglich, dass Ruth Lessing die Schuldige war? Im Großen und Ganzen war er zu ihren Gunsten voreingenommen. Sie hatte einen offenen und ehrlichen Eindruck gemacht.
War sie zu einem Mord fähig? Die meisten Menschen waren es, wenn man darüber nachdachte. Nicht fähig zu Mord im Allgemeinen, aber zu einem besonderen, individuellen Mord. Das machte es so schwierig, irgendjemanden auszuscheiden. Um diese junge Frau war eine Aura von Skrupellosigkeit. Und sie hatte ein Motiv – oder sogar ein Bündel an Motiven. Indem sie Rosemary aus dem Weg räumte, stiegen ihre Chancen, selbst George Bartons Ehefrau zu werden. Ob es darum ging, einen wohl situierten Mann zu heiraten oder den Mann, den sie liebte, für beides war Rosemarys Beseitigung die erste Voraussetzung.
Race neigte zu der Annahme, dass die Ehe mit einem reichen Mann für Ruth nicht ausreichte.
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