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Blauwasserleben

Blauwasserleben

Titel: Blauwasserleben
Autoren: Heike Dorsch
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die
Gegenüberstellung
    Ich blicke auf eine dicke Wolkendecke. Seit Stunden sitze
ich im Flugzeug. Von Frankfurt bin ich auf dem Weg nach Los Angeles, dann, nach
dem Zwischenstopp, geht es weiter nach Tahiti. Es ist der 15. April 2012. Seit
189 Tagen ist Stefan nicht mehr am Leben.
    Während ich auf das weiße Wolkenmeer unter mir schaue, muss ich
unweigerlich an Henri Arihano Haiti denken. Sieben Wochen hatte er sich auf der
Insel verstecken können. Am 28. November
2011 um 19.45 Uhr stellte er sich der Polizei. Genauer gesagt: Er lief zu
seinem Elternhaus, und sein Vater rief bei der Gendarmerie an: »Mein Sohn
stellt sich.« Der Vater hatte von Anfang an der Polizei geholfen, lief sogar
mit einem Megafon über die Insel und rief nach seinem Sohn. Über die
stellvertretende Bürgermeisterin von Taiohae hatte er mir sogar ausrichten
lassen, ob ich nicht zu einem Gottesdienst kommen würde, es täte ihm so leid,
was sein Sohn getan hätte, er könne es nicht verstehen und wolle sich bei mir
entschuldigen.
    Sieben Wochen sind eine lange Zeit, um nicht gefunden zu werden.
Zumal in einem Gebiet, das kaum bewohnt ist und zum größten Teil aus Wildnis
besteht. Die Berge sind auf Nuku Hiva bis zu tausend Meter hoch. Nachts ist es
kalt, es regnet jeden Tag. Um zu überleben, muss er von den Inselbewohnern
Unterstützung bekommen haben. Essen. Decken. Frische, warme Kleidung. Anfangs
fürchteten die Einheimischen den »bösen Täter«, lokale Jäger stellten sich auf
die Seite der Polizei. Doch irgendwann kippte die Stimmung – die Polizisten
sind Franzosen, und Franzosen sind bei den Marquesanern diejenigen, die die
Macht haben. Nicht gerade eine Situation, die zur größten Beliebtheit beiträgt.
Und immer häufiger fragten sich die Frauen, wie ich mich überhaupt von einem
einheimischen Jäger hatte befreien können.
    Um mehr über den Täter zu erfahren, hatte ich seinen Namen eines
Tages einem spontanen Einfall folgend bei Facebook eingegeben. Ich konnte es
nicht fassen: Er hatte tatsächlich einen Facebook-Account. Da gab es Fotos von
seinen Freunden – ihre Gesichter waren mir nicht fremd. Zwar kannte ich nicht
ihre Namen, aber Stefan und ich waren ihnen auf der Insel begegnet. Dabei war
Arihano noch gar nicht lange wieder auf der Insel. Erst seit Juli 2011. Vorher
hatte er in Papeete gewohnt und dort auch im Gefängnis eingesessen. Papeete ist
eine Stadt auf Tahiti, Hauptstadt von Französisch-Polynesien.
    In den Verhören wurde Arihano gefragt, warum er Stefan getötet habe.
Er äußerte mehrere Varianten. Einmal sprach er davon, dass es zum Streit
gekommen sei, während dieser heftigen Auseinandersetzung hätte sich der Schuss
gelöst. Dann wieder hieß es in einer neuen abstrusen Aussage, Stefan hätte ihn
misshandelt.
    Da ich nicht vor Ort war, erhielt ich die Informationen mal von der
Polizeistation, mal aus der internationalen Presse – es war schwierig für mich,
einzuschätzen, wie ich all diese wirren Aussagen einzuordnen hatte.
    Dass es zu der Gegenüberstellung und Rekonstruktion kommen würde,
hätte ich nicht gedacht. Polizisten, Anwälte, Übersetzer, ich – alle werden wir
eingeflogen und müssen auf Nuku Hiva untergebracht werden. Ein unglaublicher
Kosten- und Zeitaufwand.
    Es war ungeheuer schwer für mich gewesen, das Geschehene zu verarbeiten. Nachdem ich an der Feuerstelle war,
flog ich sechs Tage später nach Deutschland, elf Tage nach dem Mord. Inzwischen
waren die ersten Reporter aus Deutschland auf Nuku Hiva eingetroffen. Ein ADAC -Mitarbeiter
organisierte meine Heimreise und fragte mich vor dem Abflug: »Sind Sie
suizidgefährdet?«
    Im ersten Moment dachte ich tatsächlich, er hält mich zum Narren.
Dann sagte ich: »Ich bin um mein Leben gerannt, ich bin froh, dass ich lebe.«
    Ein eigenes Zuhause hatte ich nicht, mein Zuhause war die Baju gewesen. Meine Mutter, die in der Nähe von Würzburg
lebt, nahm mich mit offenen Armen und großer Selbstverständlichkeit auf.
Bewusst habe ich mich entschieden, keine Tabletten zu nehmen, weder
Schlaftabletten noch Antidepressiva. Die Psychologin, die ich aufsuchte,
meinte, dass das sehr gut sei. Mit Tabletten, so sagte sie, würde ich nur
unterdrücken, dass der Körper die schrecklichen Erlebnisse verarbeiten kann. In
der ersten Woche in Deutschland hatte ich, wenn ich überhaupt schlief,
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