Blauwasserleben
nur
Albträume. Manchmal konnte ich mich an sie erinnern, manchmal nicht. Es war
wirklich furchtbar.
Meine Erlebnisse mit dem Täter habe ich heute weitgehend
verarbeitet. Das glaube ich jedenfalls. Davon ist auch die Psychologin
überzeugt. Als ich um mein Leben rannte und schwamm, baute ich den
angesammelten Stress in meinem Körper ab. Dadurch hatte ich mich gleichsam im
doppelten Sinn selbst befreit. Ich habe mich aktiv gewehrt â damit kann der
Körper besser umgehen, als wenn ich befreit worden wäre.
Dass Stefan tot ist, das habe ich noch längst nicht verarbeitet.
Erst langsam realisiere ich, dass er nicht mehr wiederkommen wird. Es ist
endgültig. Es ist kein Film, der irgendwann aufhört. Ich muss mich dem Gefühl
einer kompletten Entwurzelung stellen. Stefan verloren, kein eigenes Zuhause,
kein Berufsalltag. Sogar Winterkleidung musste ich mir erst einmal kaufen, im
Pazifik war sie nicht notwendig gewesen.
Da wir nicht verheiratet waren, es keinen Partnerschaftsvertrag und
offenbar auch kein Testament gab, lebe ich von meinen Ersparnissen. Seit acht
Jahren, seitdem ich meinen Job aufgegeben hatte, war eine Heirat oder ein
Partnerschaftsvertrag immer wieder Thema zwischen uns gewesen.
Aber Stefan lebte im Hier und Jetzt, ungetrübt von allem, was
kompliziert hätte werden können. Ãlter werden kam in seinem Lebenskonzept nicht
vor. Als Stefan vierzig wurde, erzählte er anderen, er sei zwanzig.
Jung sein, optimistisch, lachend durch die Welt gehen â das hat er
getan.
Das war etwas Wunderschönes, nicht einen einzigen Tag von unserer
gemeinsamen Zeit möchte ich missen. Nur â nun war ich mit einem Mal völlig auf
mich allein gestellt und nicht im Geringsten abgesichert.
Ich werde einen neuen Traum brauchen müssen, einen anderen. Mein
halbes Leben habe ich für unseren Traum gelebt, habe meinen Job gekündigt,
Spanisch gelernt, bin mit Stefan nach Asien gegangen. Und auf einmal ist Stefan
weg. Ohne Vorankündigung. So unerwartet, wie er in Schweden in mein Leben
getreten ist, so plötzlich ist er wieder verschwunden. Ich will noch einmal bei
ihm sein, die Feuerstelle aufsuchen. Es kann, wenn ich auf Nuku Hiva bin, nicht
nur um Arihano gehen. Nicht für mich.
Langsam verliert die Maschine an Flughöhe. Bald wird das
Fahrwerk ausgefahren, und wir werden auf dem Los Angeles International Airport
landen. Ich muss daran denken, wie in den vergangenen Wochen viele Menschen
versucht haben, mit mir zu fühlen. Aber ganz ehrlich â das kann keiner, und
eigentlich will das auch keiner wirklich. Jeder ist in seinem eigenen Alltag
gefangen und will nicht mit meinen skurrilen Storys über Mordwaffen konfrontiert
werden, nichts mehr über den Täter hören.
Als ich die Kostenaufstellung meiner Anwältin las, musste ich
staunen. Ich, Opfer und Hauptzeuge, soll zahlen â für was? Ich verstand die
Welt nicht mehr. In einem Telefonat redete sie davon, es könnte sein, dass ich
vom Täter eine Entschädigung bekommen könnte. »Eine Entschädigung?«, fragte ich
sie. »Wovon soll er die denn bezahlen? Er besitzt nicht einmal ein Haus?«.
Im Stillen frage ich mich jetzt: Wie setzt man eine Zahl gegen ein
Leben? Wie viel Geld soll das aufwiegen, was ich verloren habe?
Nach elf Stunden im Flugzeug und einigen Beruhigungstabletten warte
ich in Los Angeles auf den Weiterflug. In acht Stunden werde ich in Papeete
landen. Acht Stunden! Seit ich von der Gegenüberstellung weiÃ, habe ich diesem
Termin entgegengefiebert â und nun trennen mich nicht einmal acht Stunden von
der Welt, in der Stefan ermordet wurde.
Neben mir sitzen Marquesaner, ich erkenne sie an ihrer Statur, ihren
Haaren, ihren Tattoos. Einer der Männer spielt auf der Ukulele, einer kleine
Gitarre. Eigentlich eine wunderschöne Musik. Wäre ich ein normaler Tourist, es
wäre eine schöne Einstimmung auf die Südsee. Aber ich empfinde die Töne als
Quälerei. Unsere Blicke treffen sich, der des Ukulele-Spielers und die seiner
Begleiter. Wissen sie, wer ich bin? In den letzten Tagen soll es in der
heimischen Presse einige Berichte über Stefan gegeben haben. Ich wende mich von
ihnen ab, mir laufen die Tränen nur so über die Wangen. Will ich wirklich in
dieses Flugzeug?
Bis hierher war der Weg erträglich gewesen, aber nun fängt es an,
das Zittern, das Ich-will-das-eigentlich-gar-nicht-muss-es-aber-machen.
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