Bleakhouse
Laterne brannte immer noch in dem Fenster über dem Schuppen.
»Der Junge, Miß!«
»Geht es ihm schlechter?«
»Fort, Miß.«
»Tot!«
»Tot, Miß? Nein. Fort. – Verschwunden.«
Jemals zu erraten, um welche Stunde der Nacht Jo sich davon gemacht hatte oder wie und warum, schien eine hoffnungslose Sache zu sein. Die Tür war noch ganz so, wie wir sie verlassen hatten, die Laterne stand immer noch im Fenster, und man konnte nur vermuten, er sei durch eine Falltür im Fußboden, die in den leeren Schuppen hinunterführte, entflohen. Aber wenn das der Fall war, hatte er sie wieder sorgfältig zugemacht, und sie sah aus, als habe man sie nie berührt. Vermißt wurde nicht das mindeste. Wir mußten uns also zu der Ansicht entschließen, er habe in der Nacht das Delirium bekommen und sei von irgend einer Einbildung verlockt oder aus gegenstandsloser Furcht in seinem mehr als hilflosen Zustand entflohen. So dachten wir alle, mit Ausnahme Mr. Skimpoles, der wiederholt sorglos äußerte, es sei unserm jungen Freund wahrscheinlich durch den Kopf gegangen, er wäre mit seinem bösartigen Fieber ein gefährlicher Hausgenosse, weshalb er sich mit großem natürlichem Takt empfohlen habe.
Man stellte jede mögliche Nachforschung an und fragte an allen möglichen Orten nach. Man untersuchte die Ziegelöfen, ging nach den Hütten und verhörte die beiden Frauen aufs gründlichste, aber sie wußten nichts von ihm, und niemand konnte an der Echtheit ihres Erstaunens zweifeln. Die Witterung war schon seit einiger Zeit sehr naß gewesen, und es hatte auch während der Nacht selbst zu sehr geregnet, als daß sich seine Fußstapfen hätten verfolgen lassen. Hecken, Gräben, Mauern, Heustadel und Schober wurden von unsern Leuten in weitem Umkreis untersucht, ob sich der Junge nicht vielleicht an einem dieser Orte bewußtlos oder tot auffände, aber auch nicht die geringste Spur war von ihm zu entdecken. Von der Stunde an, wo man ihn in der Kammer allein gelassen hatte, blieb er verschwunden.
Fünf Tage lang dauerten die Nachforschungen fort. Ich meine nicht, daß sie dann aufhörten, aber meine Aufmerksamkeit wurde damals in einer für mich sehr einschneidenden Weise abgelenkt.
Als Charley nämlich wieder des Abends in meinem Zimmer ihre Schreibaufgaben machte und ich ihr gegenüber arbeitete, fühlte ich, daß plötzlich der Tisch zitterte. Ich blickte auf und sah, daß meine kleine Zofe ein Schüttelfrost vom Kopf bis zur Zehe durchlief.
»Charley«, fragte ich, »frierst du so?«
»Ich glaube ja, Miß. Ich weiß nicht, was es ist. Ich kann mich nicht ruhig verhalten. Es war mir schon gestern so zumute. Ziemlich um dieselbe Stunde, Miß. Erschrecken Sie nicht, aber ich fürchte, ich bin krank.«
Ich hörte Adas Stimme draußen und eilte sogleich an die Verbindungstür zwischen dem gemeinschaftlichen Salon und meinem Zimmer. Ich verschloß sie gerade noch rechtzeitig, denn während meine Hand noch den Schlüssel umdrehte, hörte ich klopfen.
Ada rief mir zu, ich solle sie hereinlassen, aber ich sagte:
»Jetzt nicht, Liebste. Geh lieber. Es ist nichts. Ich werde gleich hinüberkommen.«
Ach, es dauerte lange, lange Zeit, ehe mein Liebling und ich wieder zusammenkamen.
Charley wurde krank. Im Verlauf von zwölf Stunden war sie schwerkrank. Ich ließ sie in mein Zimmer tragen, legte sie in mein Bett und setzte mich ruhig daneben, um sie zu pflegen. Ich unterrichtete meinen Vormund von allem, und warum ich es für notwendig halte, mich abzuschließen, und weshalb ich meinen Liebling durchaus nicht sehen wollte. Anfangs kam sie sehr oft an die Tür und rief mich und machte mir schluchzend und weinend Vorwürfe, aber ich schrieb ihr einen langen Brief, sagte ihr, daß sie mir damit Sorge und Schmerz bereite, und bat sie, wenn sie mich liebe und mir keinen Kummer zu machen wünsche, mir nicht näher als bis zum Garten zu kommen. Daraufhin trat sie oft unter das Fenster, und wenn ich schon vorher, wo wir kaum je getrennt gewesen, ihre liebe süße Stimme so sehr und von Herzen lieben gelernt hatte, wie teuer wurde sie mir jetzt, wo ich, ohne hinauszublicken, hinter dem Vorhang stand und ihr lauschte. Wie sehr lernte ich sie erst später lieben, als die schwere Zeit kam.
Man schlug in unserm gemeinsamen Salon ein Bett für mich auf, und durch Offenstehenlassen der Tür machte ich aus den beiden Zimmern eins, nachdem Ada diesen Flügel des Hauses ganz geräumt hatte. So war die Krankenstube stets frisch und luftig. Nicht ein
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