Bleakhouse
Ihrer Krankheit.«
Er deutet abermals mit großer Aufregung auf das Wort. Sie versuchen alle, ihn zu beruhigen, aber er deutet mit steigender Angst darauf. Wie sie einander ansehen und nicht wissen, was sie sagen sollen, nimmt er noch ein Mal die Schiefertafel und schreibt: »Mylady. Um Gottes willen, wo?« Und ein flehentliches Stöhnen dringt aus seiner Kehle.
Man hält es für das Beste, daß die alte Haushälterin ihm Lady Dedlocks Brief gibt, dessen Inhalt allerdings niemand weiß oder ahnen kann. Sie bricht den Brief für ihn auf und faltet ihn auseinander, daß er ihn lesen kann. Er liest ihn zwei Mal mit großer Anstrengung, dann legt er ihn verkehrt auf das Bett, so, daß man den Inhalt nicht sehen kann, und liegt stöhnend da. Er bekommt eine Art Rückfall oder sinkt in Ohnmacht; und es vergeht eine Stunde, ehe er wieder die Augen öffnet, gestützt auf den Arm seiner alten treuen Dienerin. Die Ärzte sehen ein, daß er sich am wohlsten befindet, wenn sie um ihn ist, und halten sich fern, wenn ihre Hilfeleistung nicht unmittelbar erforderlich ist.
Wieder muß die Schiefertafel gebracht werden; aber er kann sich auf das Wort, das er schreiben will, nicht besinnen. Seine Angst, sein fieberhaftes Ringen, sich verständlich zu machen, und seine Qual darüber sind kläglich anzusehen. Eine wahnsinnige Aufregung, etwas nicht ausdrücken zu können, was unverzüglich zu geschehen habe, beherrscht ihn. Er hat den Buchstaben B geschrieben und ist dabei stecken geblieben. Plötzlich, wie seine Herzensqual und sein Jammer ihren Höhepunkt erreicht haben, setzt er ein Mr. davor. Die alte Haushälterin rät »Bucket«. Dem Himmel sei Dank! das meint er.
»Mr. Bucket wartet unten und sagt, er sei bestellt. Ob er heraufkommen soll?«
Es ist nicht möglich, Sir Leicesters brennendes Verlangen, ihn zu sehen, oder seinen Wunsch, daß alle, außer Mrs. Rouncewell, das Zimmer verlassen möchten, mißzuverstehen. Es geschieht sofort, und Mr. Bucket erscheint. Sir Leicester ist von seinem hohen Thron so tief herabgesunken, daß dieser Mann sein letzter Trost, sein einziger Verlaß auf Erden ist.
»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es tut mir unendlich leid, Sie in diesem Zustande zu sehen. Ich hoffe, Sie werden und müssen sich wieder aufraffen, schon wegen des Ansehens der Familie.«
Sir Leicester drückt ihm den Brief in die Hand und sieht ihm gespannt in das Gesicht. Eine plötzliche Erkenntnis blitzt in Mr. Buckets Auge auf, wie er die Zeilen überfliegt. Mit einem Krümmen seines Fingers, noch während sein Auge die Worte liest, deutet er an: »Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich verstehe, was sie wünschen.«
Sir Leicester schreibt auf die Schiefertafel: »Volle Verzeihung. Finden...« Mr. Bucket hält ihm die Hand auf.
»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich werde sie finden. Aber die Nachforschung muß auf der Stelle begonnen werden. Keine Minute ist zu verlieren.«
Mit Gedankenschnelle folgt er Sir Leicester Dedlocks Blick nach einem Kästchen auf dem Tisch.
»Herbringen, Sir Leicester Dedlock, Baronet? Gewiß. Es mit einem dieser Schlüssel aufschließen? Gewiß. Mit dem kleinsten Schlüssel? Natürlich. Die Banknoten herausnehmen? Gut. Zählen? Ist bald geschehen. Zwanzig und dreißig macht fünfzig, und zwanzig, siebenzig und fünfzig hundertundzwanzig und vierzig hundertundsechzig. Für die Reisekosten einstecken? Gut. Lege natürlich Rechnung ab. Kein Geld sparen? Nein, gewiß nicht.«
Die Schnelligkeit und Sicherheit, mit der Mr. Bucket alles errät, grenzt ans Wunderbare. Mrs. Rouncewell, die das Licht hält, ist von der Schnelligkeit seiner Augen und Hände noch ganz schwindlig, als er bereits reisefertig aufgestanden ist.
»Sie sind Georges Mutter, alte Dame. Ich irre mich doch nicht, nicht wahr?« wirft Mr. Bucket hin, während er den Hut schon aufhat und seinen Rock zuknöpft.
»Ja, Sir, ich bin seine Mutter und bin so in Angst um ihn.«
»Das dachte ich mir nach dem, was er mir vor kurzem mitgeteilt hat. Nun will ich Ihnen etwas sagen. Sie brauchen sich nicht mehr zu grämen. Mit Ihrem Sohne ist bereits alles in schönster Ordnung. Fangen Sie jetzt nicht an zu weinen, Sie müssen vor allen Dingen Sir Leicester Dedlock, Baronet, behüten und pflegen, und das geht nicht mit Weinen. Was Ihren Sohn betrifft, sage ich Ihnen doch, so ist alles in schönster Ordnung. Er schickt Ihnen seine zärtlichsten Grüße und hofft, daß Sie seiner ebenso gedenken. Er ist in Ehren entlassen. So steht die Sache. Mit
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