Bleeding Violet - Niemals war Wahnsinn so verfuehrerisch
übernachtet, die komplett aus Schnee bestanden und voll waren mit skurrilen Eisskulpturen, die der Glasstatue ähnelten. Eine reizende Absurdität, die hier niemand zu schätzen schien.
»Wie konnte er nur seine Ohrstöpsel vergessen?«, sagte eine der Trauernden, eine kleine, runde Frau mit verschmierter Mascara auf den Wangen. »Das ist doch so fremdisch!«
Die drei Sachbearbeiter tätschelten die Statue, während sie schluchzten. Sie streichelten sie, als wollten sie sie trösten. Das Sinnlose der Geste erinnerte mich daran, wie ich eine ganze Nacht lang Poppas Hand gehalten hatte, nachdem er gestorben war, als hätte ihm meine Berührung die Angst vor dem Tod nehmen können.
»Was brauchst du, Mädchen?«
Einer der Trauernden, ein sehr alter Mann mit Cowboyhut, wischte sich die Tränen weg und sah mich fragend an.
»Ich muss mich anmelden.«
»Da brauch ich deine Geburtsurkunde, medizinische und zahnmedizinische Unterlagen und die Meldebescheinigung.« Er klopfte auf die Theke, wie um mir zu zeigen, wo ich all diese Unterlagen abzulegen hätte.
»Das hab ich alles nicht.«
»Sind deine Eltern arbeiten?«
»Mein Vater ist tot, aber meine Mutter ist zu Hause.« War sie das? Sie war noch im Nachthemd gewesen, als ich gegangen war, und sie hatte nicht den Eindruck gemacht, als hätte sie es eilig, irgendwohin zu kommen. Ich hoffte, Cowboy würde mich nicht danach fragen, womit sie ihr Geld verdiente. Ich wusste es nämlich nicht.
»Welche Nummer?«, fragte er.
Die wusste ich.
»Wie heißt deine Ma?«, fragte Cowboy und tippte die Nummer ein, die ich ihm genannt hatte.
»Rosalee Price.«
Das Weinen hörte auf der Stelle auf. Die Trauernden, die um die Glasstatue herumstanden, glotzten mich an. So auch Cowboy, der rief: »Du bist nie im Leben die Tochter von Rosalee Price!«
Was hätte ich darauf sagen sollen? »Bin ich doch!«, wie ein kleines Kind? Ich starrte ihn nur an.
Cowboy tippte die letzten Nummern ein und schielte mich die ganze Zeit über misstrauisch an, als spielte ich ihm irgendeinen geschmacklosen Streich.
»Ist da Miss Rosalee Price? Oh!« Er riss sich den Cowboyhut von seinem kahlen Kopf und hielt ihn vor seine Brust. »Ma’am, hier ist so ein Kind, und sie sagt, sie gehört zu Ihnen.« Er musterte mich. »Ja, genau. Die ist das. Sieht allerdings aus, als wär sie ersäuft worden.«
Ich wollte ihm das Telefon aus der Hand reißen, um zu hören, was Rosalee über mich sagte. Ob sie ihm riet, mich in einem Klassenzimmer einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen. Irgendetwas, um mich nie wieder sehen zu müssen. Aber ich riss mich zusammen und dachte daran, dass die Pillen mich wenigstens davon abhielten, dummen Impulsen leichtfertig nachzugeben.
»Machen Sie ruhig und faxen Sie sie rüber«, sagte Cowboy. »Nein, ich danke Ihnen .« Er beendete das Gespräch und setzte seinen Hut wieder auf. Er zog ihn ein wenig nach vorne, um den richtigen Winkel hinzubekommen. »Wenn das mal nicht der Hammer ist.«
»Echt?«
Er schaute mich wieder ungläubig von oben bis unten an. »Wie heißt du?«
»Hanna Järvinen.«
Ich buchstabierte es für ihn. Er hackte auf seiner Computertastatur herum und suchte nach jedem einzelnen Buchstaben, als mache er bei der langsamsten Schnitzeljagd der Welt mit. Das ä war dabei eine ganz besondere Herausforderung. Ich nannte ihm meine Daten, und er legte mir gerade einen Stapel Formulare zum Ausfüllen vor die Nase, als die Bürotür aufgestoßen wurde.
Ein blasses, fremdartig wirkendes Mädchen schritt vor zu der Theke – nein, eigentlich kein Mädchen. Sie hatte viel zu viel Selbstbewusstsein, um noch in die Schule zu gehen. Sie trug knallenge grüne Hosen und dazu ein passendes Tank Top. Alte Narben liefen kreuz und quer über ihre nackten Arme. Ihr langes Haar war so bitterschwarz wie Lakritz.
Sie hatte einen missgelaunten Jungen im Schlepptau. Er war groß und sportlich wie sie, aber nur sein T-Shirt war grün. Abgesehen von mir waren sie bis jetzt die Einzigen, die etwas Buntes trugen.
»Wyatt!« Cowboy nahm seinen Hut ab, wie er es auch bei dem Gespräch mit Rosalee getan hatte. »Da freuen wir uns aber, dich zu sehen! Und Verstärkung hast du auch gleich mitgebracht!« Er lächelte mit seinen großen, falschen Zähnen die Frau an. »Ist ja nett, dass du dir die Zeit genommen hast …«
»Ich bin nicht hier, um nett zu sein!« Die grüne Frau sprach mit so viel Wucht, dass Cowboy ein paar Schritte zurückwich. »Wyatt auch nicht. Wir brauchen
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