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Bleeding Violet - Niemals war Wahnsinn so verfuehrerisch

Titel: Bleeding Violet - Niemals war Wahnsinn so verfuehrerisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dia Reeves
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Kernschmelze.
    Was glaubten die eigentlich von mir? Mein Leben war ein einziger abgefahrener Scheiß. Ich hatte gerade einen kompletten Ausraster hingelegt, verdammt noch mal. Wenn hier jemand schreiend rausrennen müsste, dann ja wohl die anderen.
    »Ich wette, sie fällt in Ohnmacht«, sagte ein Mädchen links von mir.
    »Wir sind hier nicht bei ›Vom Winde verweht‹. Niemand fällt mehr in Ohnmacht.«
    Geld wechselte den Besitzer. Ein Wust aus fiebrigem Geflüster und wilden Spekulationen umfing mich.
    Wenn man mich bei so einem Amoklauf an meiner alten Schule erwischt hätte, säße ich längst bei der Schulkrankenschwester, die Tante Ulla anrufen würde, die dann meinen Seelenklempner anrufen würde. Hier lachten sie nur und schlossen Wetten ab.
    Ich erinnerte mich wieder an Rosalees Worte: Selbst wenn du Hannibal Lecter höchstpersönlich wärst, wärst du hier nichts Besonderes.
    Ms Harrison tauchte neben mir auf und legte mir ein zerschlissenes Buch auf den Tisch. »Bitte schön. Und hier sind deine Ohrstöpsel.« Sie steckte mir die kalten, wächsernen Dinger gleich selbst in die Ohren, als würde sie mir nicht trauen. Nicht, dass ich ihr das verübeln würde nach meinem Amoklauf.
    »Also dann«, sagte sie. »Machen wir auf Seite zweiunddreißig weiter.«
    Da erst sah ich, dass mir Ms Harrison kein Geometriebuch gegeben hatte. Auf dem Cover war ein junges Mädchen, das unter dem Buchtitel in die Kamera schmunzelte. Der Titel lautete: Leben mit bipolaren Störungen – eine Anleitung für Teenager .
    Ich schlug das Buch auf Seite zweiunddreißig auf und blinzelte auf die Multiple-Choice-Fragen.

    12. Wenn sie nur lernt und nie spielt, muss Hanna _________.
    a. Schokolade essen
    c. verrückt werden
    b. ungeschickt humpeln
    d. traurig werden

    Ich kreuzte d an und klappte das Buch gerade noch rechtzeitig zu, um zu sehen, wie das Mädchen auf dem Cover sich die Ohren zuhielt. Ihr Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Ich beugte mich näher zu dem Buch, nahe genug, um das Mädchen um seine glänzenden roten Lippen beneiden zu können.
    »Was ist los?«, flüsterte ich.
    »Kannst du das nicht hören ?«, fragte das Mädchen. Ihre Stimme surrte und brummte wie eine Fliege.
    »Was kann ich nicht hören?«
    »Natürlich kannst du es nicht hören.« Ihr kleines Gesicht verzog sich bitter. »Du hast ja diese tollen Ohrstöpsel. Leih mir wenigstens einen . Bitte!« Sie streckte mir ihre Hände entgegen und zeigte mir die Blutflecken auf ihren puppenhaften Handflächen, Blut, das aus ihren Ohren kam.
    Ihre armen Ohren.
    Ich nahm den rechten Ohrstöpsel raus und legte ihn auf das Buchcover. Neugierig beobachtete ich, ob das Mädchen aus seiner zweidimensionalen Begrenzung danach greifen konnte.
    kommkommkommkommkommkommkommkommkommkommkommkommkommkomm
    Ein Blitz zischte vorüber, und für eine Sekunde waren die Fenster voller Farben. Wundervolle Farben. Die Stimmen …!
    »Oh nein, vergiss es.« Carmin riss mich an meinem Träger auf meinen Stuhl zurück. Er konnte von den Trägern wohl nicht genug kriegen.
    Ich drehte mich um und schmierte ihm eine.
    »Was ist denn da hinten los?«, rief Ms Harrison.
    »Sie hat ihre Ohrstöpsel rausgenommen.« Carmin hielt meinem Wutausbruch stand, schnappte sich den Stöpsel von meinem Tisch und steckte ihn zurück in mein Ohr.
    Ich hörte sofort auf, mich zu wehren, und starrte in Carmins Gesicht, das von meinem Schlag gerötet war. Warum hatte ich mich gegen ihn gewehrt?
    »Hanna.«
    Ich drehte mich zu Ms Harrison, die vor der Klasse stand und mich anstarrte. »Ich hab nur einen rausgenommen«, erklärte ich. »Und nur, weil sie mich …«
    Aber das Mädchen auf dem Buchcover war weg. Das Buch auf meinem Tisch war ein Geometriebuch mit einem einfachen blauen Umschlag. Auf Seite zweiunddreißig ging es um Koordinaten. Weit und breit war keine Multiple-Choice-Frage zu sehen.
    »Nimm keinen von deinen Stöpseln raus«, sagte Ms Harrison. »Nicht, wenn du in dieser Schule bist.«
    Wenn ich jemals in meinem Leben verstörter gewesen war als in diesem Moment, dann konnte ich mich nicht daran erinnern. »Aber … am Fenster … waren da nicht …?«
    »Achte nicht auf die Dinger am Fenster.«
    »Dinger?«
    »Dinger, Hanna«, sagte Ms Harrison ernst. » Hungrige Dinger.«

6

    Ich hätte den Vorfall in Geometrie als manische Episode abgetan. Obwohl Erinnerungslücken oder Amokläufe neu für mich waren. Aber alles andere – das sprechende Buchcover, die Stimmen am Fenster – war nichts

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