Bleib bei mir, Gabriella
vertrugen sich nicht mit der Realität. Und zu der gehörte auch Rafe. Sie wünschte nur, er würde sie respektieren.
Gabby rieb sich die Schläfen. Sie legte den Brief hin, ging zum Flügel und sah in Rafes Richtung.
Sofort hob er den Kopf. Ihm entging nichts.
„Stört es Sie, wenn ich ein bisschen spiele?“
„Es stört mich nicht“, erwiderte er höflich. Und distanziert.
Sie setzte sich auf den Hocker und schlug ein paar Akkorde an. Das Instrument war tadellos gestimmt. Im Kopf ging sie die Stücke durch, die sie im Laufe der Jahre gelernt hatte, und entschied sich für jenes, das ihre Mutter am meisten liebte – die Mondscheinsonate. Sie begann zu spielen und verlor sich darin, bis sie Rafe und das Hotel, Blake und seinen Schmuck vergaß.
Als sie fertig war, saß sie mit geschlossenen Augen da und wehrte sich gegen die Tränen, die hinter den Lidern brannten. Sie konnte noch nicht aufstehen, konnte sich Rafe und der Welt um sie herum nicht stellen. Sie legte die Finger auf die Tasten und spielte ein klassisches Stück.
Rafe wandte sich ihr zu, nachdem der letzte Ton verklungen war. „Was hatte das denn zu bedeuten?“
Gabby stand auf, trat an eines der Fenster und schaute auf den Golfplatz hinunter. Wie ehrlich durfte sie sein? Er war ihr Bodyguard, ein Angestellter.
Sie erzählte ihm die Wahrheit. „Es bedeutet, dass ich mich manchmal gefangen fühle.“
So fühlte sie sich, wenn sie nicht wie ein normaler Mensch durch die Straßen schlendern konnte. Wenn jemand nur das berühmte Model kennenlernen wollte, nicht den Menschen Gabriella McCord. Wenn sie an Miko dachte. Und daran, wie blind sie gewesen war.
Sie war achtundzwanzig und hatte sich wie eine Neunzehnjährige benommen. Sie sehnte sich danach, nach Italien zurückzukehren, durch den Olivenhain zu spazieren, auf der Terrasse zu sitzen und der untergehenden Sonne zuzusehen, in der Stadt in eine Trattoria zu gehen und so behandelt zu werden wie die anderen Gäste auch.
Gabby war ihren Eltern für alles dankbar, was sie ihr gegeben hatten. Aber manchmal fühlte sie sich im Innern noch immer so einsam.
Im Laufe der Jahre hatte sie festgestellt, dass die Einsamkeit sich etwas legte, wenn sie sich auf einen anderen Menschen konzentrierte. Warum nicht auf Rafe? Er durfte nur nicht merken, wie attraktiv sie ihn fand.
Sie setzte sich zu ihm. „Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen?“
Er drückte auf eine Taste, und der Bildschirm des Laptops wurde schwarz. Dann klappte er den Deckel zu und zögerte, als würde er mit sich ringen. „Mein Vater war Polizist.“
„Wo sind Sie aufgewachsen?“
„Hier in Dallas.“
„Wollten Sie auch Polizist werden?“
„Ja, bis ich zwölf war. Der Präsident kam nach Dallas, um eine Rede zu halten. Mein Vater war zu seiner Bewachung eingeteilt und schaffte es, mir eine Eintrittskarte zu besorgen. Ich verstand nicht alles, was der Präsident sagte, aber ich wusste, dass es ein wichtiges Ereignis war und mein Vater dazugehörte. Am Abend haben wir es uns in den Nachrichten angesehen, und ich lächelte ihm zu. ‚Ich war dabei‘, habe ich voller Stolz gesagt. Dad zeigte auf die Männer in der Nähe des Präsidenten. Die Männer haben den wichtigsten Job der Welt.“
Gabby wartete darauf, dass er weitersprach.
Nach einem Moment tat er es. „Als Kind wollte ich immer Streifenpolizist werden, wie mein Dad. Oder Detective. Aber den Abend vor dem Fernseher habe ich nie vergessen. Als er im Dienst getötet wurde, war ich auf dem College, um später zur Polizei zu gehen. Am Tag seiner Beerdigung habe ich mir geschworen, ihm alle Ehre zu machen und mich um den wichtigsten Job der Welt zu bewerben.“
Gabby wusste, dass der Secret Service vielfältige Aufgaben hatte. „Wie lange haben Sie den Präsidenten beschützt?“
„Zwei Jahre. Danach habe ich Geldfälscher gejagt.“
„Blake hat mir erzählt, dass Sie eine Kugel abbekommen haben, die für einen Senator bestimmt war.“
„Exsenator“, verbesserte Rafe. „Damals hatte ich schon meine eigene Firma.“
Er hatte sich zu ihr gedreht, sie sich in seine Richtung gebeugt, und plötzlich waren sie einander viel näher.
Sie wollte etwas sagen, hatte jedoch Angst, dass er sie missverstehen könnte.
„Na los, heraus damit“, forderte er sie auf.
„Ich will nicht, dass Sie es falsch verstehen. Dass Sie glauben, ich wollte mit Ihnen flirten.“
„Ich hätte das vorhin nicht sagen dürfen.“ Seine Stimme klang rauer als sonst.
Gabby zögerte noch
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