Bleib bei mir, kleine Lady
Hansell. „Aber, also, ich meine, das heißt deshalb noch lange nicht, daß Seine Lordschaft etwas erfahren darf. Er darf nicht wissen, daß Sie hier sind. Auf Thomas können wir uns verlassen. Mein Bruder weckt ihn gerade, damit er sich um Ihren Caesar kümmert, Mylady. Thomas ist ein angeheirateter Vetter von uns und absolut zuverlässig.“
„Gut“, sagte Gracila und lächelte.
„Und ich“, fügte Mrs. Hansell hinzu, „also, ich rede dann morgen mit Cable. Er ist etwas schwer von Begriff, aber sonst ein sehr braver Mann.“
Cable war ein Pferdeknecht, der schon seit ewigen Zeiten in Barons’ Hall war.
Bei den Besuchen mit ihrem Vater in Barons’ Hall hatte sich Gracila auch oft die Zeit in den Stallungen vertrieben. Cable hatte ihr dann immer einen Korb mit Karotten besorgt, und sie hatte damit die Pferde füttern dürfen.
„Eines ist schöner und gepflegter als das andere“, hatte sie dann meistens zu dem Knecht gesagt, und dieser war sehr stolz gewesen.
„Aber Arbeit machen sie, Mylady“, hatte er jeweils entgegnet, und damit war dann auch die Unterhaltung erschöpft gewesen.
Daß Cable sie nicht verraten würde, stand für Gracila fest.
Mrs. Hansell holte Gracilas Kleider aus dem Bettbezug und hängte sie auf.
Es waren sehr elegante und, wie Gracila fand, sündhaft teure Kleider, aber ihre Stiefmutter hatte die Meinung vertreten, das Beste sei gerade gut genug für eine Herzogin.
Wahrscheinlich, dachte Gracila jetzt, wird mich nie jemand in den Kleidern sehen, aber tragen kann ich sie ja trotzdem.
Ob sie allerdings die passende Garderobe für eine Gouvernante waren – und irgendwann mußte sie ja wohl versuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen –, bezweifelte sie. Einer Dame standen keine anderen Möglichkeiten offen, und Gracila konnte nur hoffen, daß sie gegebenenfalls eine Stelle als Erzieherin finden würde.
Mrs. Hansell, die sich darangemacht hatte, den Wäschesack auszuleeren, schien Gracilas Gedanken gelesen zu haben.
„Also, jetzt machen Sie sich einmal keine Sorgen“, sagte sie. „Vielleicht sieht morgen alles schon ganz anders aus.“
„Das glaube ich nicht“, sagte Gracila leise. „Papa und meine Stiefmutter rechnen bestimmt damit, daß ich noch vor der Hochzeit wieder auftauche. Dabei habe ich ihnen in einem Brief klipp und klar erklärt, daß ich den Herzog nicht heiraten werde.“
„Also, wenn Sie mich fragen, Mylady“, sagte Mrs. Hansell, „so gibt das eine Riesenaufregung. Sind Sie denn ganz sicher, daß Sie das Richtige getan haben?“
Mit dieser Frage schien die gute Seele einen letzten Versuch machen zu wollen, Gracila zur Rückkehr zu bewegen. Gleichzeitig hatte Gracila jedoch das Gefühl, daß Mrs. Hansell genau wie Millet wußte, warum sie von zu Hause weggelaufen war.
„Ich kann den Herzog nicht heiraten, Mrs. Hansell“, sagte Gracila leise. „Und zurückkehren kann ich erst, wenn Papa und der Herzog sich mit der – Wahrheit abgefunden haben.“
„Also, Mylady“, sagte Mrs. Hansell, „wenn das Ihr fester Entschluß ist, dann wollen wir nicht mehr darüber sprechen. Wir können nur hoffen, daß niemand auf die Idee kommt, hier in Barons’ Hall nach Ihnen zu suchen.“
„Hier sucht man ganz bestimmt nicht nach mir“, sagte Gracila mit Überzeugung.
„Wahrscheinlich nicht.“
Als Millet, der ihr ein Glas warme Milch heraufgebracht hatte und sie offensichtlich immer noch für ein Kind hielt, und seine Schwester ihr gute Nacht gesagt hatten und gegangen waren, war Gracila allein.
Während sie sich langsam auszog, betrachtete sie genüßlich ihre neue Umgebung. Der warme Schein des Kerzenlichts strich über die Holzvertäfelung der Wände, die handbestickten Samtvorhänge vor den kleinen Fenstern und das schwere, mit reichen Schnitzereien verzierte eichene Bettgestell.
Irgendwie schien ihr dieser Raum auf beruhigende Weise sagen zu wollen, daß alle Schwierigkeiten und Probleme, die ihr im Moment das Leben schwer machten, so vergänglich waren, wie diejenigen der Menschen aus früheren Zeiten, die hier geschlafen hatten.
Vielleicht hatten auch sie Angst, dachte Gracila. Vielleicht mußten auch sie weglaufen und für das kämpfen, was sie für richtig hielten.
Als sie ins Bett ging, hatte sie das Gefühl, von wohlmeinenden Geistern umgeben zu sein, die auf sie aufpaßten und dafür sorgten, daß ihr nichts zustieß.
Doch als sie die Augen schloß, ertappte sie sich dabei, wie sie an Lord Damien dachte, der sich in einem anderen Teil
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