Bleib bei mir, kleine Lady
würde denn dann passieren?“ hatte Gracila gefragt.
„Also, dann müßten Sie von hier weg, Mylady, ganz gleich, was Sie ihm als Erklärung sagen würden.“
Gracila wußte, daß Mrs. Hansell recht hatte. Trotzdem hatte sie manchmal den Eindruck, daß alle ihre Gouvernanten im Vergleich zu Mrs. Hansell sanftmütige Menschen gewesen waren, die ihr alles hatten durchgehen lassen – und das war weiß Gott nicht der Fall gewesen.
Doch heute morgen hatte Mrs. Hansell plötzlich vollstes Verständnis für Gracilas Ruhelosigkeit gezeigt.
„Also, ich verstehe ja, daß Sie mal raus wollen, Mylady“, hatte sie gesagt. „Und heute dürfen Sie auch raus.“
„Wirklich?“ hatte Gracila gefragt. „Wie ich mich freue! Aber wieso denn plötzlich?“
„Weil Seine Lordschaft ein Pferd haben satteln lassen“, hatte sie geantwortet. „Seine Lordschaft beabsichtigen, bis an die Ostgrenze des Besitzes zu reiten, und das ist weit.“
„Phantastisch!“ hatte Gracila gerufen.
„Also, bis zur Ostgrenze brauchen Seine Lordschaft schon einige Stunden“, hatte Mrs. Hansell gesagt. „Außerdem hat mir der Kammerdiener Seiner Lordschaft ausgerichtet, daß Lord Damien zum Mittagessen nicht da sein wird.“
„Das heißt, daß ich den ganzen Vormittag draußen bleiben kann. Da gehe ich in den Wald. Zu dieser Jahreszeit ist es im Wald besonders schön.“
Mrs. Hansell lächelte. „Also, schon als Kind war das Ihre ganze Seligkeit, Mylady“, entgegnete sie. „Ich erinnere mich noch ganz genau, sie waren damals höchstens sechs Jahre alt, und ich habe gerade meinen Bruder besucht, und da haben Sie mir aus dem Wald einen großen Strauß Schlüsselblumen mitgebracht.“
Sie schüttelte den Kopf, als sei es ihr immer noch ein Rätsel.
„Also, erst gestern abend habe ich es zu Millet gesagt“, fuhr sie fort. „Sie haben sich nicht verändert.“
„Aber etwas gewachsen bin ich seitdem doch hoffentlich, oder?“ fragte Gracila lachend.
„Also, Ihre Gesichtszüge sind noch ganz genauso“, erklärte Mrs. Hansell. „Bei Ihnen ist es wie bei Ihrer lieben Mama – Gott hab sie selig. Sie hat auch bis zu ihrem Tod wie ein Kind ausgesehen.“
„Sie war eine sehr schöne Frau“, sagte Gracila leise.
Sie erwartete eigentlich von Mrs. Hansell zu hören, daß auch sie sehr schön sei. Statt dessen jedoch nahm die Haushälterin ein Kleid aus dem Schrank und wechselte das Thema.
„Also, Ihr Bad ist gerichtet, Mylady“, sagte sie. „Ich schlage vor, daß Sie heute dieses Kleid anziehen. Es ist zwar auch viel zu elegant für einen Spaziergang im Wald, aber mit den anderen verglichen ist es noch das einfachste. Daß Grasflecken kaum mehr herausgehen, wissen Mylady hoffentlich.“
Gracila lächelte. „Ich passe schon auf.“
Sie hatte gebadet, sich angezogen und in dem kleinen Salon gefrühstückt.
Die Sonne war durch die Fenster geflutet, und Gracila war so aufgeregt und gespannt gewesen wie vor ihrem ersten Ball.
Und so genoß sie jetzt alles um sich herum. Sie hatte keine Eile und blieb immer wieder stehen, um hier eine Magnolienblüte mit vorsichtigen Fingern zu berühren und dort an einer Fliederblüte zu riehen. Die Magnolien waren der ganze Stolz des verstorbenen Lord Damien gewesen.
„Man findet kaum eine Stelle in ganz England“, pflegte er zu sagen, „wo sie so prachtvoll blühen wie hier.“
Für Gracila waren sie typische Pflanzen des Ostens, über den sie schon immer hatte mehr wissen wollen.
Eines Tages, dachte sie, während sie an einer Magnolienblüte roch, kann ich vielleicht doch nach Ägypten reisen oder nach Persien oder Indien.
Sie ging weiter und kam schließlich zu der Stelle, wo der Bach aus dem See sprudelte. Er schlängelte sich durch den Wald und floß unter dichtem Gestrüpp hindurch, bis er schließlich die Grenze des Besitzes erreichte.
Der Bach war voller Forellen. Sein Wasser war kristallklar, und Gracila konnte die anmutigen Fische über die Kieselsteine huschen sehen.
So möchte ich auch schwimmen können, dachte sie voll Neid.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie es als Kind versucht hatte. Damals hatte sie noch im See baden dürfen.
Als sie jedoch zehn geworden war, hatte man ihr gesagt, daß sie jetzt zu alt dazu sei. Es könne sie ja jemand dabei sehen.
„Und was macht das aus?“ hatte sie gefragt.
Eine logische Antwort hatte es nicht gegeben. Es gehörte sich eben nicht. Eine Dame hatte vom Scheitel bis zur Sohle bedeckt zu sein, wenn sie sich im Freien
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