Bleib bei mir, kleine Lady
des großen Herrschaftssitzes befand.
Sie fragte sich, was er in diesem Moment dachte.
Ob er froh war, wieder zu Hause zu sein? Und warum er wohl nach so langer Zeit zurückgekommen war?
Wie seltsam es sein mußte, so lange im Ausland zu leben und zwölf Jahre nichts von dem zu sehen, was einem bekannt und vertraut war.
Zwölf Jahre … Das hieß, daß Lord Damien jetzt einunddreißig war, denn mit neunzehn war er mit der Marquise weggelaufen.
Die Marquise war älter gewiesen als er, und trotz allem, was man sich über sie erzählt hatte, war man einstimmig der Meinung gewesen, daß sie eine bildschöne Frau war.
Sie hatte pechschwarze Haare gehabt und dunkle Augen, die von einer Glut waren, daß jedem Mann das Herz stehenblieb – wie Gracila einmal jemanden hatte sagen hören.
Sie hatte über die Jahre hinweg so viel über diese Skandalgeschichten gehört und sich zwangsläufig so viele Fragen dazu gestellt, daß es ihr jetzt fast unglaublich vorkam, plötzlich selbst am Rande damit zu tun zu haben.
Der Hauptdarsteller des Dramas, der junge Romeo, schlief, ohne es zu wissen, unter demselben Dach wie sie.
Mitty und Mrs. Hansell haben zwar gesagt, daß ich mich auf keinen Fall in seine Nähe wagen darf, dachte sie, aber irgendwie muß ich ihn einmal sehen, um feststellen zu können, ob er wirklich wie Lord Byron aussieht und tatsächlich so schlecht und verderbt ist, wie sie alle behaupten.
„Dieser niederträchtige junge Kerl hat seinen Vater ins Grab gebracht“, hatte Gracila ihren Vater einmal zu ihrer Mutter sagen hören. „Auch uns würde es das Herz brechen, Elizabeth, wenn sich ein Sohn von uns so schändlich benehmen würde.“
Die Stimme ihres Vaters hatte leicht angespannt geklungen, denn mit der Bemerkung über den jungen Lord Damien hatte er unbewußt einen wunden Punkt berührt. Trotz der drei Söhne, die er von seiner ersten Frau hatte, war Gracilas Vater nie so recht darüber hinweggekommen, daß seine zweite Frau Elizabeth ihm nur eine Tochter geboren hatte.
Gracila hatte wenig Kontakt mit ihren Halbbrüdern gehabt, die alle bereits verheiratet gewesen waren, einige Kinder hatten und selten ins Schloß gekommen waren.
Gracilas Vater war noch sehr jung gewesen, als seine Söhne zur Welt gekommen waren. Sie waren nie besonders gut mit ihrem Vater ausgekommen und hatten von eh und je wenig Interesse für Gracila gezeigt.
Gracila hatte sich immer nach einem echten Bruder gesehnt und empfand es jetzt als besonders schmerzlich, niemanden zu haben, an den sie sich mit ihren Problemen wenden konnte.
Sie fragte sich, ob wohl Lord Damien verstehen würde, warum sie so gehandelt hatte, schließlich war auch er von zu Hause weggelaufen, allerdings aus einem völlig anderen Grund.
Die meisten Menschen, dachte sie, halten es wahrscheinlich für feige. Dabei hatte sie all ihren Mut aufbieten müssen, um diesen Schritt zu tun.
Auf dem Ritt nach Barons’ Hall war sie plötzlich so unsicher geworden, daß sie fast umgekehrt wäre. Die fünf Meilen zwischen den beiden Landsitzen waren unendlich lang gewesen. Sie war querfeldein geritten und hatte immer wieder das Gefühl gehabt, durch völlig unbekanntes Gebiet zu reiten und in ein Leben einzutauchen, in dem alles fremd war.
Sie hatte sich mehrmals gefragt, ob sie sich nicht vielleicht zwingen sollte, das zu vergessen, was sie mitangehört hatte. War es nicht einfacher, den Herzog zu heiraten und ein Leben als Herzogin zu führen? Ein Leben, in dem alles vorgezeichnet war?
Doch jedesmal hatte sie im selben Augenblick gewußt, daß sie nicht in der Lage dazu war. Schon allein ihr Stolz hätte es nicht zugelassen.
Und jetzt wußte sie, daß sie richtig gehandelt hatte. Ganz gleich, was die Zukunft brachte, sie war froh, daß sie die Feigheit besiegt hatte und nicht umgekehrt war.
Irgendwie fand sie es plötzlich spaßig, daß Lord Damien, dieser Mann, von dem so schlecht und voll Verachtung gesprochen wurde, unwissentlich zu ihrem Beschützer geworden war.
Da sein Ruf so miserabel war, würde niemand auf die Idee, kommen, daß sie, ein so junges und so unschuldiges Mädchen, zu ihm geflohen war und sich in seinem Haus versteckte, noch dazu, wo er zurückgekehrt war.
Gracila konnte sich bei dem Gedanken, wie entsetzt alle sein würden, ein Lächeln nicht verkneifen.
Welch ein Gerede und Geklatsche würde quer durch das Land gehen, wenn es je herauskäme …
„Wissen Sie schon, wo sich die verlorene Braut aufhält?“ würde man sich
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