Bleib cool Samantha
in meinem Zimmer von dem soeben erlittenen Schock zu erholen, als Lucy kurz darauf an meiner Tür vorbeihuschte. Ich hatte meine Kopfhörer auf und lauschte Gwens »Tragic Kingdom« (weil ich die Hoffnung hatte, ihre Versicherung, sie sei auch nur »a girl in the world« würde meine angegriffenen Nerven etwas beruhigen), weshalb ich erst mal nur sah, wie Lucy im Türrahmen stehen blieb und ungefähr eine Minute lang stumm die Lippen bewegte. Ich reagierte nicht. Als sie trotzdem nicht wegging, nahm ich die Kopfhörer ab und fragte mit einer Stimme, die so barsch klang, dass sogar Manet, der dösend neben dem Bett gelegen hatte, aufschreckte: »Was ist los?«
»Genau das habe ich dich gerade gefragt«, sagte Lucy. »Wieso guckst du so, als hättest du gerade erfahren, dass John Mayer gestorben ist?«
Diesen Vergleich brachte sie, weil es in der Welt, in der Lucy lebt, eine Katastrophe wäre, wenn John Mayer tot wäre. In meiner Welt würde es niemandem auffallen.
»Warum ich so gucke? Das kann ich dir sagen.Während du Grandma dabei hilfst, ihre Thanksgiving-Kerzen in Form unseres verehrten Pilgervaters John Smith und seiner Ehefrau Priscilla zu entzünden, bin ich dazu verdammt, in Camp David von meinem Freund David entjungfert zu werden.«
Na ja, das ist jedenfalls das, was ich am liebsten gesagt hätte.
Weil ich mir aber irgendwie ziemlich sicher war, dass es nicht besonders klug wäre, mich meiner Schwester anzuvertrauen, antwortete ich einfach das Erste, was mir in den Kopf kam, nämlich: »Keine Ahnung. Wahrscheinlich steh ich bloß noch ein bisschen unter Schock, weil ich heute zum ersten Mal einen… äh… ein männliches Geschlechtsteil gesehen habe.«
Als ich ihr Gesicht sah, war mir sofort klar, dass es klüger gewesen wäre, etwas anderes zu sagen. Ganz egal was. Nur nicht das, was ich gesagt hatte. Weil es nämlich genau das Gegenteil von dem bewirkte, worauf ich gehofft hatte – nämlich dass sie sich verzog.
Stattdessen stürzte sie so hektisch in mein Zimmer, dass sie gegen die Wäschekommode stieß und meine Hellboy-Actionfiguren umkippten, die ich sorgfältig und mit viel Hingabe so arrangiert hatte, dass sie die Szene wiedergaben, in der Liz auf dem Opferstein liegt.
»Was, echt?«, fragte sie begierig. »Von David oder was? Hat er ihn etwa rausgeholt, als ihr euch vorhin draußen verabschiedet habt? O Gott, ist das ekelhaft. Ich finde es voll widerlich, wenn Jungs das machen.«
»Öh… nein, hat er nicht«, sagte ich leicht fassungslos. Gibt es etwa echt Jungs, die so was machen? David hat es jedenfalls noch nie gemacht.Vielleicht ist er einfach zu gut erzogen.
Aber Lucy hatte es so gesagt, als wäre es ihr schon öfter passiert. Dabei hat sie doch schon lang einen festen Freund! Okay, er studiert in einer anderen Stadt, aber trotzdem. Was läuft auf diesen Partys von der In-Clique an unserer Schule eigentlich ab? Kein Wunder, dass Kris Parks ihren komischen »Richtigen Weg«-Verein gegründet hat. Wahrscheinlich hat sie das volle Trauma, weil um sie herum ständig irgendwelche Typen ihre Geschlechtsteile auspacken und herzeigen.
»Nein. Es war ein Typ, der Terry hieß«, erklärte ich. »Er ist Modell in dem Aktzeichenkurs von Susan Boone und wir mussten ihn zeichnen.«
Das schien Lucy aber auch nicht besser zu finden.
»Igitt!« Sie verzog das Gesicht. »Der erste Penis, den du gesehen hast, war nicht der von deinem Freund, sondern der von irgendeinem schmierigen Aktmodell? Das ist ja wohl voll krank.«
Wenn man bedenkt, dass das genau das war, was ich ein paar Stunden zuvor auch noch gedacht hatte, ist es eigentlich komisch, dass ich mich selbst antworten hörte: »Na ja, beim Aktzeichnen geht es nun mal genau darum. Wenn man lernen will, Menschen realistisch wiederzugeben, muss man wissen, wie sie unter ihrer Kleidung aussehen.«
Und dann – ich kann es mir selbst nicht erklären – erzählte ich Lucy plötzlich alles.
Ich weiß. Ausgerechnet Lucy . Völlig selbstmörderisch. Wenn ich mich überhaupt jemandem hätte anvertrauen sollen, dann vielleicht höchstens der ultracoolen Dauntra aus der Videothek, in der ich arbeite. Die wäre die Richtige gewesen. Aber nein. Ich muss natürlich so blöd sein und meine Schwester Lucy zu meiner Vertrauten machen. Ich konnte mich aber nicht bremsen. Irgendwie plapperte mein Mund plötzlich von allein los, so als wäre er von meinem Hirn abgekoppelt.
»Aber das ist noch nicht alles«, hörte ich mich zu meinem eigenen Entsetzen sagen.
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