Bleib ungezaehmt mein Herz
wissend, daß Judith die Absicht hatte, Harriet nach Carrington Manor einzuladen - und ihre Eltern delikaterweise von dieser Einladung auszuschließen.
Judith winkte einem vorbeifahrenden Landauer zu als Reaktion auf die lebhaften Grüße der Insassen. »Da sind Isobel und Cornelia.« Der Landauer hielt am Gehsteig an.
»Judith, was für ein göttlicher Hut!« rief Isobel. »Guten Tag, Sebastian... ich habe einen Hut genau wie diesen bei Bridget's gesehen, Judith, aber er sah nach nichts aus. Ich habe ihn noch nicht einmal aufprobiert. Ich dachte, er würde mich kahlköpfig aussehen lassen oder so ähnlich.«
Erst jetzt nahm Sebastian Notiz von dem fraglichen Hut: einem engen Helm, der den Kopf seiner Schwester vollständig umschloß und ihr Haar verbarg, wodurch die Linien und Flächen ihres Gesichts besonders betont wurden. Kein Hut, der jeder Frau stehen würde, entschied Sebastian.
»Eine Sache des Knochenbaus«, kommentierte Cornelia. »Man muß schon Knochen im Gesicht haben, um einen so ausgefallenen Hut tragen zu können.« Ihre Nase war rot vor Kälte, und sie betupfte sie mit ihrem Taschentuch. »Ich wünschte wirklich, ich hätte mich nicht von dir zu dieser Spazierfahrt überreden lassen, Isobel. Es ist schrecklich kalt; viel lieber würde ich jetzt mit einem Buch am Kamin sitzen.«
»Oh, ein bißchen frische Luft ist nur gut für dich«, erwiderte Isobel. »Du kannst dich nicht den ganzen Tag hinter irgendwelchen lateinischen Büchern verkriechen, oder was meinst du, Judith? Sebastian, was ist Ihre Meinung?«
Sebastian betrachtete die rotnasige und eindeutig niedergeschlagene Cornelia. »Ich denke, Kamine und Bücher haben einiges für sich... obwohl ich nicht behaupten kann, daß ich mich besonders für Klassiker interessiere.«
Cornelia schniefte und putzte sich die Nase. »Ganz zufällig habe ich nichts Lateinisches gelesen, ich habe >Guy Mannering< gelesen. Kennst du das Buch, Judith?«
Judith nickte. »Ich habe auch eine Ausgabe, habe sie aber noch nicht gelesen. Es heißt, es sei von Walter Scott, nicht?«
»Ja, es erinnert sehr an >Waverley<... obwohl er nicht zugeben wird, daß er den Roman ebenfalls geschrieben hat.«
Ein Windstoß ließ die Federn auf Isobels Hut erzittern, und der Kutscher hustete nachdrücklich, als die Pferde unruhig mit den Hufen stampften.
»Ihre Pferde werden sich erkälten, Isobel«, sagte Sebastian und trat einen Schritt zurück. »Es ist kein Wetter, um herumzustehen.«
»Auch kein Wetter zum Spazierengehen«, erklärte Judith, sich fester in ihren Mantel hüllend.
Sie winkte dem davonfahrenden Landauer nach und wandte sich dann wieder zu ihrem Bruder um. »Ich glaube, es wird Zeit, das entscheidende Spiel mit Gracemere vorzubereiten. Wir sollten die Sache bis Weihnachten hinter uns gebracht haben.«
Sebastian nickte. »Wir haben ihn genau da, wo wir ihn haben wollten. Ich werde jetzt anfangen, immer schwerere Verluste hinzunehmen, um seinen Appetit für den letzten Abend anzuregen.«
»Ich hoffe doch, wir haben noch die Rücklagen, die wir brauchen?«
Er nickte. »Genügend.«
»Hat er wieder betrogen?«
»Zweimal. Ich habe natürlich sorglos verloren. Er hat keine Ahnung, daß ich weiß, warum ich verloren habe.«
»In drei Wochen ist der Ball der Duchesse von Devon-shire«, meinte Judith nachdenklich. »Eine Woche vor Weihnachten. Es wäre die perfekte Gelegenheit, Gracemere zu entlarven - alle werden da sein.«
Sebastian überlegte einen Moment, dann nickte er knapp. »Ich werde von jetzt an hauptsächlich Piquet mit ihm spielen. Ein paar kleinere Gewinne, große Verluste. Am Abend vor dem Ball werde ich so hoch verlieren, daß er denken muß, ich stände am Rande des Ruins. Im Laufe der Nacht wird er dann zum Gnadenstoß ausholen.«
»Und in dieser Nacht...« Judith schauderte, aber nicht vor Kälte. Im Laufe dieser Nacht würden sie und Sebastian Bernard Melville, Earl von Gracemere, zerstören.
Sie räusperte sich und fuhr fort: »Ich werde mich dann in das >Duell< einmischen, das du und er austragt - ganz auf die neckische Tour, verstehst du? Gracemere wird mich für unglaublich naiv halten, daß ich es als Spiel betrachte und nicht merke, daß mein Bruder ein fettes Hühnchen ist, dem er sämtliche Federn ausrupfen wird.«
»Du mußt dafür sorgen, daß Marcus in der fraglichen Nacht irgendwo anders ist«, sagte Sebastian nüchtern.
»Ja.« Dann fügte Judith hastig hinzu: »Ich weiß nicht, wie lange ich diese Täuschung noch
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