Bleib ungezaehmt mein Herz
aufrechterhalten kann, Sebastian. Ich komme mir wie eine Verräterin vor, so illoyal.«
»Nur noch drei Wochen«, erwiderte Sebastian ruhig. »Mehr nicht. Ich kann auch nicht länger warten, Ju.«
»Nein, das weiß ich.« Sie ergriff seine Hand und drückte krampfhaft seine Finger. Eine Moment später klang ihre Stimme heiter, die Anspannung der letzten Minuten überspielend: »Hast du dir schon überlegt, wie du mit Letitia fertig wirst?«
Sebastian stöhnte. »Hoffentlich erweist sich Yorkshire als zu weit für häufige Besuche.«
»Ist Harriet fähig, sich gegen ihre Mutter zu behaupten?«
Sebastian überlegte. »Ja, mit Unterstützung«, erwiderte er schließlich. »Bis jetzt hat sie es natürlich noch nie getan, aber ich denke, wenn wir erst verheiratet sind, wird sie wahrscheinlich lieber ihre Mama verärgern als mich.«
Judith lachte laut. »Sie ist wirklich ein süßes, anpassungsfähiges Wesen, Sebastian. Was für ein Glück, daß sie sich in jemanden verliebt hat, der ihr niemals weh tun wird.« Wieder lief dieses unheimliche Prickeln ihren Rücken hinab, und ihr Lachen erstarb, als das Bild von Agnes und Gracemere vor ihrem inneren Auge auftauchte.
»Ich muß jetzt nach Hause«, sagte Judith, als sie am Apsley-Tor angekommen waren. »Lord Castlereagh, Lord Liverpool und der Duke von Wellington essen mit uns.«
»In welch exklusiven Kreisen du dich bewegst«, bemerkte Sebastian grinsend. »Kein geringerer als der Premierminister und der Außenminister.«
»Ich habe den Verdacht, daß Marcus sich der Politik zuwenden wird, da im Moment keine Kriege geführt werden«, sagte Judith. »Wellington wendet seine Aufmerksamkeit ganz sicher in diese Richtung. Marcus sagt, es hängt damit zusammen, daß der Duke eine sehr simple politische Philosophie hat: Er ist der Diener der Krone und muß seine Pflicht tun, wie es die Umstände gerade erfordern - auf dem Schlachtfeld oder im Parlament. Er ist der beliebteste Mann im Land und hat so großen Einfluß auf das Oberhaus, daß er die Tories wahrscheinlich auf eine Weise koordinieren kann, wie Lord Liverpool es nicht fertigbringt.« Sie runzelte die Stirn. »Ich frage mich, ob Marcus einen Posten in irgendeinem Ministerium in Betracht zieht, das Wellington einrichten könnte. Komisch, der Gedanke ist mir gerade eben erst gekommen.«
»Meine Schwester die Frau eines Kabinettsministers«, meinte Sebastian mit spöttischem Staunen. »Du solltest jetzt lieber nach Hause eilen und die Gäste deines Mannes bezaubern.«
»Seltsamerweise finde ich Wellington nicht im geringsten einschüchternd«, sagte Judith. »Vielleicht, weil ich einmal eine Nacht auf einem Tisch in seinem Hauptquartier geschlafen habe. Und er ist ein unglaublicher Charmeur.«
»Dann bin ich überzeugt, ihr beide werdet ausgezeichnet miteinander auskommen«, witzelte ihr Bruder.
Als Judith zu Hause ankam, fand sie eine Nachricht vor. Sie stammte vom Earl von Gracemere, der seine Ehrenschuld von Judith mit der Bitte einforderte, ihm am folgenden Abend bei einem öffentlichen Ridotto in Ranelagh Gesellschaft zu leisten. Stirnrunzelnd nahm Judith den Brief mit in ihr Schlafzimmer hinauf und klingelte nach Millie. Sie stopfte die Einladung in eine Schublade ihres Sekretärs, während sie auf die Zofe wartete.
Bernard hatte einen merkwürdigen Ort für die Einlösung ihrer Schuld gewählt. Ein öffentliches Ridotto war eine vulgäre Maskerade, an der im allgemeinen keine Mitglieder der ersten Gesellschaft teilnahmen. Doch vielleicht war das der springende Punkt. Vielleicht hatte er sich aus Rücksicht auf sie, Judith, dazu entschieden, um sicherzugehen, daß ihr Rendezvous geheim blieb. Allerdings... was Judith von Gracemere wußte, ließ nicht auf Rücksichtnahme schließen. Viel wahrscheinlicher war, daß er irgend etwas Böses ausheckte.
Sie würde natürlich nicht zu der Maskerade gehen. Aber wie sollte sie die Einladung ablehnen, ohne Gracemeres guten Glauben an ihre Freundschaft zu erschüttern? Wenn sie ihn so spät in diesem Spiel zurückwies, bliebe ihr nur sehr wenig Zeit, um den Schaden vor dem Ball der Duchesse von Devonshire wiedergutzumachen, und in jener Nacht würde sie sich dichter an Gracemeres Fersen heften müssen als sein Schatten.
»Mylady... welches Kleid, Mylady?«
»Was sagten Sie, Millie?« Geistesabwesend blickte Judith auf. Millie stand geduldig wartend vor dem Schrank.
»Welches Kleid werden Sie heute abend tragen, Mylady?«
»Oh.« Judith runzelte die Stirn und
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