Bleib ungezaehmt mein Herz
Liebe.«
»Und dann heiratest du sie unverzüglich.« Agnes nickte. »Eine Nacht wird vollauf genügen, um sie zu überreden, am Morgen mit dir vor einen Priester zu treten. Und wenn sie erst einmal verheiratet ist, können ihre Eltern nichts mehr tun. Sie werden die Sache in möglichst günstigem Licht darstellen wollen, aus Angst, ihr guter Ruf könnte ruiniert werden. Wir werden zu unseren Dreißigtausend kommen, mein Liebster, und die Geschichte wird eine überstürzte Liebesheirat sein. Zwei, die im Überschwang der Leidenschaft miteinander durchgebrannt sind und so weiter.« Ihr zynisches Lachen vibrierte im Raum, und nicht zum ersten Mal stellte Gracemere fest, daß seine Mätresse ihm durchaus ebenbürtig war, was die kaltblütige Einschätzung der menschlichen Natur betraf.
Die Einladung wurde Judith am nächsten Morgen auf die übliche Weise zusammen mit ihrer Schokolade auf einem Silbertablett überbracht. Das Dinner war für denselben Abend angesetzt, die Arrangements kurz und knapp dargelegt. Wie schon zuvor würde eine neutrale Mietdroschke auf Judith warten. Den Bestimmungsort wollte der Earl nicht verraten - er sei jedoch überzeugt, Judith würde entzückt sein, da das Ambiente ihren Sinn für Abenteuer und die Spielerin in ihr anspräche, wie Gracemere weiter schrieb.
Judith zerknüllte den Briefbogen mit einem leisen Ausruf. Dieses Mal gab es kein Entrinnen. Sie konnte die Einladung nicht ablehnen, ohne Gracemere vor den Kopf zu stoßen, und wie schon beim ersten Mal konnte sie es sich nicht leisten, ihn zu verärgern, nicht so kurz vor dem endgültigen Schlag.
Sie zog sich an und machte sich auf die Suche nach Marcus. Er saß mit John in seinem Arbeitszimmer, blickte jedoch bei ihrem Eintreten mit einem erfreuten Aufleuchten in seinen dunklen Augen auf. »Guten Morgen, meine Liebe. Was kann ich für dich tun?«
Gott, wie sie es haßte, ihn anlügen zu müssen. Sie lächelte John zu, um sich von dem abzulenken, was sie sagte. »Ich wollte dir nur mitteilen, daß ich heute abend zu einem sehr privaten Dinner gehe.«
»Oh.« Marcus legte seine Schreibfeder hin. »Bin ich nicht eingeladen?«
»Nein, ich fürchte, nicht.« Sie wandte ihm ihren Blick zu, in der Hoffnung, daß sie ihre Mimik jetzt unter Kontrolle hätte. »Es ist eine reine Frauenangelegenheit, verstehst du.«
Marcus lachte. »Cornelia und die anderen?«
»Richtig. Ich werde aber trotzdem nicht zu spät nach Hause kommen.«
John hüstelte diskret. »Entschuldigen Sie, Ihre Ladyschaft, aber Sie und Lord Carrington sind heute abend bei den Willoughbys eingeladen - zu dem Musikabend«, sagte er. »Die Harfenistin, falls Sie sich erinnern.«
»Ach, das hatte ich völlig vergessen«, rief Judith. »Und ich würde so gerne den Abend mit meinen Freundinnen verbringen. Marcus... würde es dir etwas ausmachen?«
Er konnte dem flehenden Blick dieser goldbraunen Augen einfach nicht widerstehen. »Tja, dann muß ich wohl alleine gehen.«
»Du bist ein Prachtstück von Ehemann!« sagte sie und beugte sich über den Schreibtisch, um ihn zu küssen. John wandte diskret die Augen ab.
»Ich erwarte aber eine Entschädigung«, meinte Marcus.
»Das versteht sich doch wohl von selbst.« Judith ging zur Tür. »Und wie ich schon sagte - ich werde nicht so spät zurückkommen.«
Tatsächlich würde sie für kaum mehr als eine Stunde aus dem Haus sein, wenn sie die Sache richtig anpackte. Bernard Melville, Earl von Gracemere, würde das geheime Rendezvous mit der Frau seines Erzfeindes nicht sonderlich genießen... was immer er auch erwartete.
Nachdem Judith diesen Entschluß gefaßt hatte, war ihr schlechtes Gewissen wegen der Lüge schon wieder etwas beruhigt. Die Umstände arbeiteten zu ihren Gunsten, da keine ihrer Freundinnen zu dem musikalischen Abend eingeladen worden war. Die Willoughbys, ein ältliches Ehepaar, spielten in der gesellschaftlichen Szene Londons keine große Rolle, waren aber Freunde von Marcus' Mutter, weshalb Marcus sich verpflichtet gefühlt hatte, ihre Einladung zu einem kleinen, ausgewählten Kreis älterer Musikliebhaber anzunehmen. Wenn er nach Hause käme, würde seine Frau schon brav im Bett liegen, nachdem sie den größeren Teil des Abends untadelig in ihren eigenen vier Wänden verbracht hätte.
Judith zog sich an diesem Abend mit großer Sorgfalt an. Sie entschied sich für ein Kleid mit ungewöhnlich hohem Ausschnitt und steckte ihr Haar zu einer züchtig geflochtenen Krone auf. Ihr Benehmen heute abend
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