Bleib ungezaehmt mein Herz
Flasche, prüfte ihn sorgfältig und goß eine kleine Menge Rotwein in ein flaches Probierglas. Dann schnüffelte er an der Flüssigkeit, nahm einen Schluck und ließ ihn bedächtig im Mund herumrollen.
»In Ordnung?«
»Ja, Mylord. Sehr gut.« Er füllte ein Kristallglas und reichte es Marcus. »Wäre das alles, Sir?«
»Im Augenblick, ja. Danke, Gregson.«
Marcus atmete erst genußvoll das Bouquet des Weins ein, bevor er daran nippte. Er ging zu den hohen, schmalen Fenstern, die Ausblick auf einen kleinen, von einer Mauer umgebenen Garten boten. Der rauhe Herbstwind ließ die Blätter einer Kastanie auf den Rasen herabregnen. Ein Gärtner harkte die rostbraune, naßglänzende Masse zusammen und warf sie in ein Laubfeuer. Der Anblick erinnerte Marcus plötzlich an Judiths Haar, das im Kerzenlicht schimmernd auf weißen Kissen ausgebreitet lag... an das gleichfarbige seidige Dreieck zwischen den langen, elfenbeinweißen Schenkeln...
Abrupt kehrte er zum Schreibtisch zurück und griff erneut nach dem Stapel Rechnungen, während er nachdenklich mit dem Finger darauf klopfte. Judith achtete ganz sicher nicht auf die Höhe ihrer persönlichen Ausgaben. Sie war wunderschön und leidenschaftlich im Bett, und er bezahlte sie gut dafür.
Warum in Gottes Namen ärgerte er sich dann darüber? Er war ein großzügiger Mann, war es immer gewesen. Geld war nie ein Problem für ihn gewesen - sein Vermögen war zu groß, als daß ihm hohe Ausgaben Kopfzerbrechen bereitet hätten. Und dennoch, als er die Rechnungen seiner Frau durchsah und feststellte, wieviel sie für ihre Garderobe ausgegeben hatte, konnte er nur daran denken, wie anders es jetzt für sie nach all den Jahren sein mußte, die sie von der Hand in den Mund gelebt, ihre Kleider umgeändert und falschen Schmuck getragen, in billigen Unterkünften gewohnt hatte... während sie nach außen hin so getan hatte, als hätte sie Zugang zu all den Dingen, an die sie jetzt so leicht kam.
Ein Haus am Berkeley Square, ein Landsitz in Berkshire, eine unangreifbare gesellschaftliche Stellung... Judith mußte sich jeden Tag hundertmal dazu gratulieren, wie hervorragend ihre Strategie funktioniert hatte.
Marcus trank sein Glas aus und schenkte sich noch etwas Wein nach. Seit Waterloo verlief ihre Beziehung in gewisser Weise oberflächlich. Über das Zusammentreffen im Schankraum war kein Wort mehr gefallen. Und keiner von beiden erwähnte beim Liebesspiel die empfängnisverhütenden Maßnahmen, die Marcus auch weiterhin traf. Sie befolgten die gesellschaftlichen Konventionen und gingen im übrigen getrennte Wege. Außer während der stillen, intimen Stunden der Nacht. Dann drängte das heftige Verlangen ihrer Körper die freudlose Erkenntnis über die wahre Natur ihrer Partnerschaft in den Hintergrund, so daß Marcus am Morgen erwachte, erfüllt von einer Wärme und Zufriedenheit, die jedoch mit einem Schlag wieder zerstört wurde, sobald seine Erinnerung zurückkehrte.
Judith sprach nie über ihre Vergangenheit, und Marcus fragte auch nie. In allen grundlegenden Dingen blieben sie Fremde, außer in ihrer Leidenschaft. War das genug? Konnte es jemals genug sein? Aber es war alles, was er bekommen würde, und so sollte er besser lernen, sich damit zufriedenzugeben.
Er stellte sein Glas ab und verließ das Arbeitszimmer, die Rechnungen noch in der Hand. Das gelbe Wohnzimmer war ein kleiner Salon im ersten Stock, auf der Rückseite des Hauses. Judith hatte ihn sofort für sich in Beschlag genommen, weil sie die steife Förmlichkeit der Gesellschaftsräume
- die Bibliothek, das große Wohnzimmer und das Speisezimmer - scheute. Marcus öffnete die Tür und wurde von einem hellen Schwall weiblichen Gelächters begrüßt; es brach augenblicklich ab, als die drei Frauen im Raum sahen, wer da hereinkam, und einen Augenblick lang fühlte er sich wie ein Eindringling in seinem eigenen Haus.
»Nun, Marcus, bist du gekommen, um ein Glas Ratafia mit uns zu trinken?« sagte Judith und hob in ihrer üblichen herausfordernden Art die Brauen.
»Der Tag, an dem ich dich Ratafia trinken sehe, ist der Tag, an dem ich weiß, daß ich auf dem Weg ins Chaos bin«, bemerkte er und verbeugte sich. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Nachmittag, Ladies. Ich will nicht stören, Judith, aber ich würde dich gern in meinem Arbeitszimmer sehen, sobald du Zeit hast.«
Judith wurde sichtbar zornig. Es war ihr bisher noch nicht gelungen, die herrische Art ihres Ehemannes zu bändigen. »Ich habe heute
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