Bleib ungezaehmt mein Herz
eher gesagt. Es wird auffallen, wenn ich eine solche Summe an einem einzigen Abend gewinne. Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte sie über mehrere Abende hinweg verteilt gewonnen. Es wirkt etwas eigenartig, wenn man den ganzen Abend im Kartenzimmer verbringt und nur um hohe Einsätze spielt.«
»Was sagst du da? Ich weiß, du bist eine begeisterte Spielerin, aber...«
»Oh, es ist ein wenig mehr als das«, warf Judith ein. »Ich bin tatsächlich sehr geschickt mit Karten.«
»Das ist mir schon aufgefallen.« Cornelia musterte Judith durch ihre Lorgnette. »Du und dein Bruder.«
»Unser Vater hat es uns beigebracht«, erklärte Judith. Selbst in dieser Runde war sie nicht bereit, sich über ihre Vergangenheit näher zu äußern. »Wir waren beide gelehrige Schüler, und ich genieße es.«
»Aber ich verstehe immer noch nicht...«, sagte Sally unsicher.
»Wenn ich heute abend zu Mrs. Dolbys Kartenparty ginge, würde ich wahrscheinlich eine entsprechende Summe gewinnen«, erklärte Judith. »Und an einem solchen Ort würde es keinerlei Aufmerksamkeit erregen.«
»Aber du kannst nicht in der Pickering Street spielen,
Judith.« Isobel war schockiert. Die Kartenparties der Witwe Dolby waren berüchtigt für ihre enorm hohen Spieleinsätze und die lockere, leichtlebige Gesellschaft.
»Warum nicht? Viele Frauen tun es.«
»Ja, aber sie kommen schnell in einen gewissen Ruf.«
»Sebastian wird mich begleiten. Wenn ich in seiner Gesellschaft erscheine, dürfte es keinen Klatsch geben.«
»Was ist mit Carrington?«
»Ich sehe keinen Grund, weshalb er dahinterkommen sollte«, sagte Judith. »Es wird wunderbar klappen. Es soll dort auch einen Makaotisch geben.« Judith lächelte Sally zu. »Nur Mut. Du wirst die Rubine morgen früh wieder einlösen.«
»Aber wie kannst du so zuversichtlich sein?«
»Übung«, erwiderte Judith eine Spur trocken. »Ich habe eine Menge Übung.«
Die Frauen verabschiedeten sich kurz darauf; Sally sah schon etwas optimistischer aus. Judiths Zuversicht wirkte ansteckend, obwohl es schwierig war, einem solchen Versprechen zu trauen.
Judith stand stirnrunzelnd in dem jetzt leeren Salon. Seit ihrer Heirat hatte sie nur zur Unterhaltung gespielt, um geringe Einsätze. Berufsmäßiges Spielen war etwas ganz anderes. Ob sie aus der Übung war? Sie schloß die Augen, stellte sich in Gedanken einen Makaotisch vor, sah ein Kartenblatt vor sich. Das alte, vertraute Prickeln der Erregung lief ihren Rücken hinunter, und sie lächelte vor sich hin. Nein, sie würde niemals ihr Gefühl für die Karten verlieren.
Sie würde Sebastian als Begleiter brauchen. Wahrscheinlich hatte er schon seine eigenen Pläne für den Abend und würde Zeit benötigen, sie zu ändern. Es kam Judith nicht in den Sinn, daß ihr Bruder sie im Stich lassen könnte. Sie würde sofort zu seiner Wohnung gehen... halt, nein. Marcus wartete auf sie. Was mochte wohl hinter seiner brüsken Aufforderung, in sein Arbeitszimmer zu kommen, stecken? Eine Minute lang spielte sie mit der Idee, seine Forderung zu ignorieren, dann tat sie den Gedanken mit einem Achselzucken ab. Marcus war auch so schon schwierig genug, ohne daß sie noch absichtlich für Aufruhr sorgte.
Marcus öffnete selbst die Tür auf Judiths kurzes Klopfen hin. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange dich deine Freundinnen aufhalten würden.«
»Sie hatten vorrangig Anspruch auf meine Zuwendung«, erwiderte sie. »Es wäre eine unverzeihliche Unhöflichkeit gewesen, sie zum Gehen aufzufordern... obwohl du diese Einstellung nicht zu teilen scheinst. Du hast ja unmißverständlich klargemacht, daß sie ihren Besuch nicht verlängern sollten.«
Marcus warf einen Blick auf die Uhr und bemerkte trocken: »Ich kann nicht sehr überzeugend gewesen sein. Ich habe weit länger als eine Stunde auf dich gewartet.«
Judith legte den Kopf schief und starrte ihn aus zusammengezogenen Augen an. »Und was hast du sonst noch erwartet, Marcus?«
Er mußte gegen seinen Willen lachen. »Nichts sonst, mein Luchs.« Eine Nadel war aus dem Chignon in ihrem Nacken gerutscht und hatte eine feine Strähne kupferfarbener Haare gelöst. Es war ein unwiderstehlicher Anblick, und ohne bewußte Entscheidung zog Marcus die Nadel ganz heraus. Dann schien es albern, aufzuhören, und seine Finger glitten durch die seidige Masse, fanden und entfernten Nadeln und zerstörten Judiths kunstvolle Frisur.
Judith protestierte nicht. Wann immer seine Hände sie berührten, war die Wirkung die
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