Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
und verschwand.
Alex blieb am Anfang des geschotterten Weges stehen und atmete tief durch. Es hatte zu schneien aufgehört, und auch der Wind ließ langsam nach. Hier draußen war es wie immer herrlich ruhig, und er merkte, wie die Anspannung, die er im Taxi noch gespürt hatte, langsam nachließ. Er war nicht grundlos hier rausgezogen. Für sein Geschäft war es eigentlich sogar schädlich, weil niemand ihn fand und er alle Klienten schon für das erste Gespräch aufsuchen musste. Für sein Inneres dagegen war der Ort wie Medizin. Kein Seelenklempner der Welt würde je erreichen, was Stille und Abgeschiedenheit bei ihm bewirkten.
Nach der Sache damals in Frankfurt hatte er es noch eine Weile in seiner Wohnung in Wiesbaden ausgehalten. Schon allein wegen der Verhandlung hatte er dort nicht weggekonnt, aber es war eine Qual gewesen. Sein Gesicht und sein Name waren zwar aus den Medien herausgehalten worden, trotzdem hatte er immerzu das Gefühl gehabt, die Leute würden ihn anstarren. Darüber hinaus bestand auch die Gefahr, dass die Mafia ihn aufspürte. Die Mafiosi, mit denen er in engerem Kontakt gestanden hatte und die ihn hätten identifizieren können, waren zwar tot, aber er wusste nicht sicher, ob nicht doch einer ein schnelles Handyfoto von ihm an die Führungsebene geschickt hatte.
Im Grunde bestand das Risiko auch heute noch. Die Mafia vergaß nie. Aber die Gefahr wurde mit jedem Jahr, das er in diesem selbstgewählten Exil verbrachte, kleiner. Hätte er nach seiner Enttarnung damals seinen Kollegen nicht erschossen, hätte er selbst nicht mehr lange gelebt. Die Mafia hätte einen Weg gefunden, aus David herauszubekommen, wer der verdeckte Ermittler war, der ihren Rauschgiftring hatte auffliegen lassen – gerade im Knast, wo David zweifelsohne gelandet wäre. Weil Alex sich darüber im Klaren gewesen war, hatte er nicht gezögert und auch nicht auf die Beine gezielt, als David damals seine Waffe gegen ihn gerichtet hatte.
David.
Der einzige Freund, den er je gehabt hatte.
Die Sucht nach dem großen Geld hatte ihre Freundschaft beendet, nicht seine Kugel, und wer etwas anderes dachte oder sagte – und das waren viele –, der hatte keine Ahnung. Der konnte ihn am Arsch lecken.
Alex verdrängte die Gedanken, bückte sich, nahm etwas Schnee auf und fuhr damit über sein Gesicht. Die Kälte tat gut.
Er bemerkte noch nicht ganz zugeschneite Reifenspuren im Schnee. Sie führten die Einfahrt hinauf.
Also war Jördis doch zurück.
Wieso ging sie nicht an ihr Handy?
Alex rammte die Hände in die Taschen seiner Jacke und stiefelte durch den fünf Zentimeter hohen Neuschnee. Schon von weitem sah er Carlas Wagen vor der Hütte stehen. Dach und Scheiben waren eingeschneit, folglich parkte sie schon länger hier.
Auf Carlas freches Mundwerk hatte er heute gar keinen Bock mehr. Hoffentlich hatte Jördis ihr nicht angeboten, wegen des Wetters bei ihm auf der Couch zu schlafen.
Wenige Meter, bevor er die Hütte erreichte, fiel Alex eine Trittspur auf, die von rechts aus dem Wald zum Auto führte und sich dort mit den anderen, wahrscheinlich Carlas und Jördis’ Spuren, vermischte. Vor der Hütte sah es aus, als hätte eine größere Gruppe Polka getanzt.
Stirnrunzelnd blieb Alex stehen und betrachtete die einzelne Spur genauer. Es waren große Abdrücke von Schuhen mit derber Sohle, wahrscheinlich Winterstiefel.
Er hob den Kopf und sah zur Hütte hinüber. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Haustür nicht geschlossen war. Sie stand einen Spaltbreit offen. Schnee war bereits in den Flur gerieselt.
Mit dem einstudierten Automatismus vieler Jahre schnellte seine Hand unter seine Jacke. Dorthin, wo früher, als er noch Beamter gewesen war, die Waffe im Halfter gesteckt hatte. Jetzt griff sie ins Leere.
Mit vorsichtigen Schritten schlich Alex um den Wagen herum, drückte sich neben der Haustür an die Hüttenwand und lauschte. Außer dem Rauschen des Windes in den Tannen war nichts zu hören. Keine Stimmen, kein albernes Lachen. Wenn Jördis und Carla zusammen waren, lachten sie immer. Das schwere Gefühl der Bedrohung verstärkte sich noch. Hier stimmte etwas nicht.
Er schob sich ein paar Zentimeter vor und spähte um die Ecke in den Flur. Es war dunkel drinnen. Er konnte nichts erkennen.
Mit einer Hand drückte er die Tür vorsichtig weiter auf. Der Menge Schnee nach zu urteilen, die bereits auf den Fliesen im Flur lag, stand sie schon eine ganze Weile offen und war nicht einfach nur einen Moment
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