Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
ein besserer Mensch, aber trotzdem anders.
Er war berechnend.
Er verhielt sich genauso, wie Frau Dr. Sternberg in ihrem Seminar einen Psychopathen beschrieben hatte. Jedes Wort, das er sagte, schien wohl überlegt zu sein, obwohl er doch allen Grund hatte, vor Wut zu rasen. Außerdem hatte er vorhin um Verständnis für seine Situation gebeten – hatte regelrecht um Mitleid gebettelt.
Verstehen Sie mich doch! Das ist auch für mich nicht einfach. Wo soll ich denn hin? Das ist doch mein Zuhause hier, ich habe doch sonst niemanden. Mir tut das alles so leid, glauben Sie mir, und es wird auch nie wieder vorkommen. Das wollte ich meiner Frau sagen, deswegen bin ich hier. Können Sie das denn nicht verstehen? Sie sind doch auch verheiratet. Eine Ehe ist nicht immer nur eitel Sonnenschein.
Trotz seiner Situation und der Anspannung, unter der er zweifellos stand, hatte er ihren Ehering bemerkt und diesen Umstand zu nutzen versucht, hatte versucht, sie auf seine Seite zu ziehen. Dabei hatte er die Schultern zusammengezogen und sich kleiner gemacht, als er war. Er hatte mit hoher, flehender Stimme gesprochen, verzweifelt gestikuliert und es sogar geschafft, seine Augen feucht werden zu lassen.
Er hatte wirklich alle Register gezogen. Aber wie schon am Abend zuvor hatte Tanja heute noch mehr das Gefühl gehabt, dass der Mann sich nur mühsam unter Kontrolle hielt. Nur so lange, wie es unbedingt nötig war. Er würde seine Frau nicht in Ruhe lassen. Dieser Typ Mann musste das Spiel gewinnen.
Psychopathen wollen immer gewinnen.
Diesen Satz aus dem Seminar hatte Tanja sich eingeprägt.
Was, wenn dieses Spiel in einer Katastrophe endete? Was, wenn er seine Frau tötete, und sie hätte es verhindern können? Genau dafür hatte sie das Seminar doch besucht. Um besser erkennen zu können, wie solche Menschen tickten und welche Gefährdung von ihnen ausging. Allerdings waren ihre Möglichkeiten eingeschränkt. Beim Dienststellenleiter würde sie aufgrund ihres schlechten Bauchgefühls keine Observierung durchbekommen, allenfalls regelmäßige Streifenfahrten, aber auch das würde schon schwierig werden. Der Sparzwang und die dünne Personaldecke hatten in den letzten Jahren alles schwieriger werden lassen.
Als Tanja auf den Hof der Dienststelle fuhr, hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Sie wusste, an wen sie sich wenden konnte.
Anou stoppte ihren Wagen in der Toreinfahrt; es war der einzige freie Platz in der engen Einbahnstraße.
Nele stieg als erste aus und betrachtete das Gebäude.
Holger Sälzle hatte die benötigte Adresse relativ schnell gefunden. Er war auf einen Ordner gestoßen, in dem Dokumente archiviert waren, die online verschickt worden waren. Unter anderem Abrechnungen für PC-Sicherheitssoftware. Und eben diese Rechnungen waren adressiert an einen Horst Schön, Katzengasse 11, hier in der Stadt.
Nele und Anou waren sofort aufgebrochen. Weil sie beide hungrig waren, hatten sie auf dem Weg bei einem Bäcker gehalten und belegte Brötchen geholt, die sie während der Fahrt gegessen hatten. Nele war etwas ruhiger seitdem, wenngleich die Anspannung, die sich während der letzten Stunden in ihr aufgebaut hatte, nicht nachgelassen hatte. Nachdem die Identität des Opfers aus dem Maststall bekannt war, hatten die Ermittlungen eine Eigendynamik entwickelt, die Nele an eine Achterbahnfahrt erinnerte. Und dementsprechend fühlte sie sich auch: durcheinander, durchgeschüttelt, ohne klares Ziel vor Augen. Es gab noch einige Spuren, denen nachgegangen werden musste, aber im Moment erschien ihr die Spur, auf die Alexander Seitz sie gestoßen hatte, am dringlichsten. Warum sonst sollte ein so erfahrener Mann sich die Mühe machen, die Festplatte eines PC zu kopieren? Der Besitzer, Horst Schön, hatte ihm dazu sicher keine Erlaubnis erteilt. Folglich war Seitz hier eingebrochen.
»Was für eine Bruchbude«, sagte Anou und schloss zu ihr auf.
Gemeinsam gingen sie zur Tür des Gebäudes.
»Literatur vor Ort«, las Anou von dem Schild ab, das in dem zugeklebten Schaufenster hing. »Literaturbrunch jeden Sonntag. Was ist das hier? Ein Treffpunkt für Literaten?«
Nele trat einen Schritt zurück und blickte an der schmutzigen Fassade empor. Die Fenster waren allesamt verhüllt. »Hat Frau Gerstein nicht gesagt, ihre Tochter wollte Schriftstellerin werden?«, dachte sie laut nach.
Anou sah sie an. »Du hast Recht. So ist Seitz also auf diesen Mann gestoßen. Na, auf den bin ich gespannt.«
Sie drückte auf den
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