Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
aus Süddeutschland hierher versetzt worden war, und nahm sich vor, so bald wie möglich mit dem neuen Kollegen zu sprechen. Sie mochte es nicht, wenn sie nicht wenigstens ein bisschen was vom privaten Hintergrund der Menschen kannte, mit denen sie zusammenarbeitete.
Außerdem waren noch Arthur Alpert und Steffen Roth anwesend, die beiden Polizeibeamten, die Nele zum Hof von Miriam Singer gefahren hatten und von ihr kurzerhand dazugebeten worden waren. Es fehlte noch Dr. Sternberg. Und natürlich Anouschka Rossberg, und das ließ Neles Laune erneut auf einen Tiefpunkt sinken.
Sie sah auf die Uhr.
»Kommt Anouschka nicht?« fragte Eckert Glanz.
»Ich konnte sie bisher nicht erreichen.«
»Sie geht nicht an ihr Handy?« Eckert zerfurchte die Stirn.
Nele ahnte, was in seinem Kopf vorging. Als das letzte Mal ein Kollege über sein Handy nicht zu erreichen gewesen war, hatten sie ihn später tot aufgefunden. Aber das waren andere Voraussetzungen gewesen. Eckert wusste ja nicht, dass Anou beleidigt war und schmollte, weil sie sich gestern Abend gestritten hatten.
Nele zuckte mit den Schultern. »Sie weiß nichts von der aktuellen Entwicklung.«
Dann wandte sie sich an die ganze Gruppe.
»Ich habe jemanden von der OFA dazubestellt. Frau Dr. Sternberg. Sie hat am Freitag hier ein Seminar abgehalten und war noch in der Stadt. Ich habe sie angerufen und gefragt, ob es ihr möglich wäre zu helfen. Sie hat sich spontan dazu bereit erklärt.«
»Operative Fall-Analyse«, sagte Eckert. »Haben wir dafür überhaupt schon genug Material beisammen?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Nele, »aber die Gelegenheit war gerade günstig, und es kann sicher nicht schaden, wenn sie von Anfang an dabei ist.«
»Jemand von außerhalb zu einem so frühen Stadium der Ermittlungen … Na, ich weiß nicht.«
Eckert war ein Ermittler alter Schule. Ein fleißiger, korrekter, äußerst genauer Mensch, der sich aber nur schwer mit Neuem und Ungewohnten anfreunden konnte. Dass er Probleme mit jemandem von der OFA hatte, wunderte Nele nicht. Aber letztlich war es egal, die Entscheidung oblag allein ihr als Leiterin der VUT-Abteilung. Sicher, sie hätte vorher mit Hendrik darüber sprechen sollen, aber dafür war keine Zeit gewesen. Er würde es schon verstehen.
Wo blieb nur Anou?
Würde sie ihre privaten Differenzen wirklich ihre Arbeit beeinflussen lassen?
Es klopfte an der ohnehin offen stehenden Tür, und ein ausgeschlafenes »Guten Morgen« klang durch den kleinen Raum.
Nele war beinahe ein wenig enttäuscht, Frau Dr. Sternberg zu sehen. Sie verließ ihren Platz, begrüßte sie, bedankte sich noch einmal für ihr Kommen und bot ihr dann einen Platz gleich zu ihrer Rechten an.
»Ich habe Sie schon vorgestellt.«
Dr. Sternberg nickte. »Ich bleibe erst einmal die stille Beobachterin. Vielleicht könnten wir beide uns danach noch unter vier Augen unterhalten?«
»Unbedingt.«
Nele überflog noch einmal den Notizzettel, den sie in ihrem Büro vorbereitet hatte. Er war sehr umfangreich, und trotzdem hatte sie das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben.
Noch ein Blick zur Tür.
Anou kam nicht.
»Herr Sälzle, wären Sie so freundlich, die Tür zu schließen?«, bat sie den neuen Kollegen.
Sälzle lehnte sich zurück und schloss die Tür, ohne dafür aufstehen zu müssen.
Damit kehrte schlagartig Ruhe ein.
Nele räusperte sich. In Gedanken hatte sie sich die einführenden Worte zurechtgelegt, aber dass es so schwer werden würde, hatte sie nicht geahnt.
»Kennen sich schon alle?«, wich sie zunächst aus. »Die Zusammensetzung ist ja neu.«
Allgemeines Nicken.
»Okay. Es fehlt noch Frau Rossberg. Wir fangen aber schon mal an … Sie wissen alle Bescheid … Wir haben heute Nacht eine Kollegin verloren. Simone Lachnitt. Ich weiß, das trifft uns alle hart, mir geht es nicht anders, aber …«
Plötzlich spukte das Bild wieder durch ihren Kopf. Das grauenhafte Bild der auf dem Dielenboden liegenden Polizistin mit durchtrennter Kehle. Bisher hatte Nele funktioniert wie ein Rädchen im Uhrwerk, so, wie man es von ihr erwarten konnte, und es war auch genug zu tun gewesen, um sie von dem tief sitzenden Schock abzulenken. Doch in dieser Sekunde schienen sämtliche Stärke und Professionalität von ihr abzufallen.
Das durfte sie nicht zulassen. Nicht hier und jetzt vor ihren Mitarbeitern …
»Entschuldigung«, presste sie gerade noch hervor, dann verließ sie fluchtartig den Besprechungsraum, zog die Tür hinter sich zu
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