Bleiernes Schweigen
schaltet den Fernseher ab und hievt sich in den Rollstuhl. Zehn Minuten später ist er im Bett, die Nachttischlampe brennt, die Schatten an der Decke geben der Vergangenheit eine Form und der Gegenwart eine Ahnung.
Er denkt an unser letztes Treffen im Park. An den langen Monolog, mit dem er vor allem versucht hat, seine eigenen Gedanken zu ordnen. Wenn Borsellinos Tod den Staat auf den Plan ruft, wenn sein tragischer Tod zu viel Staat bedeutet, dann muss es ein Teil eben dieses Staates sein, der die Cosa Nostra zu seiner Ermordung überredet. Oder sie dazu verpflichtet. Und wenn dem so ist, muss es dafür eine Gegenleistung gegeben haben.
Es heißt, der reformierte Artikel 41 habe die Cosa Nostrain die Knie gezwungen. Nach den Attentaten von 1993 hat es keine Bomben mehr gegeben. Das ist eine Tatsache. Doch zu welchem Preis?
Er löscht das Licht und dreht sich auf die Seite.
Von der Mailänder Via Palestro erinnert er die kahlen, schwarz verkohlten Bäume. Den über Nacht jäh hereingebrochenen Winter, der die Farben, die Luft, einfach alles geschluckt hat. Und Elenas Kälte. Elena, die bei der Nachricht lediglich unwirsch wurde. Ein vom Tisch gefegter Aschenbecher, als müsste man einen lästigen Verehrer loswerden. Sie war weder überrascht noch hatte sie sich Fragen gestellt. Sie hatte lediglich zum Ausdruck gebracht, was alle nach der Explosion in der Via Georgofili, zwei Monate zuvor in Florenz, empfanden: Das ist es noch nicht gewesen.
Wie oft hatte er in jenem Sommer diesen Satz gehört.
Das ist es noch nicht gewesen.
Doch dann, ganz plötzlich, war’s das.
Die Bomben, die Bekennerschreiben der Falange Armata, die Zerstörung der Baudenkmäler, unschuldige Passanten und Anwohner, die mit in den Tod gerissen wurden. Die Angst, es könnte etwas geschehen. Jede Nacht, jeden Augenblick.
Vom Lärm zur Stille. Ein letztes Aufblitzen in der Nacht, dann Dunkel.
Und wieder einmal war es der Pirat aus Ravenna, der den Startschuss gegeben hat.
Am 21. Juli 1993 wird Davide Mirri tot in seiner Wohnung aufgefunden. Er hat sich umgebracht, zumindest scheint es so. Fünf Tage darauf löst sich die Democrazia Cristiana auf. Am folgenden Tag kommt es zum Nationalstreik der Fernfahrer. Lebensmittel und Benzin werden knapp, es droht der totale Stillstand. In der Nacht explodieren die Bomben in Rom und Mailand. Zwei Tage später wird vor der siebten Division des SISMI, der die Organisation Gladio unterstand, ein Sprengkörper entdeckt. Am selben Tag bringt sich Donato Patti im Gefängnis um.
Am 30. Juli erhalten der
Messagero
und der
Corriere della Sera
zwei anonyme Briefe.
Das bisher Geschehene ist nur der Auftakt. Die nächsten Bomben werden bei Tag und an öffentlichen Orten hochgehen und Menschenleben fordern. Wir garantieren, es werden Hunderte sein.
Wieder ein paar Tage später kommt es zu einer Erklärung, die ihn lange verfolgt.
Die Bomben wollen nicht zerstören, sie wollen den Weg für etwas frei machen. Die politische Macht ist bereits so gut wie zerstört.
Jahrelang hat Adriano über Craxis Worte nachdenken müssen. Über die Präzision, mit der sie die Grenzen der Geschehnisse markierten. Es gab nichts mehr zu zerstören, das Luftschloss war bereits zusammengebrochen.
Wie so oft hatte er diese Worte dann irgendwann vergessen. Bis zu jenem Treffen im Park, bis zu Di Donnas Geschichte, bis zu diesen Bildern von Mirri, die zufällig über den Bildschirm flackern.
Alles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist, denkt er.
Er schließt die Augen, wie gern würde er schlafen, die Vermutungen auf den nächsten Tag schieben, in der Hoffnung, sie zu Gewissheiten werden zu lassen, zu Schuldig oder Unschuldig.
Ein schwieriges Unterfangen, angefangen beim Schlaf, der einfach nicht kommen will, umzingelt von manchmal rhetorisch erscheinenden Fragen. Wenn es einen Pakt gibt, wer hat ihn besiegelt? Wenn es eine Absprache gibt, wie lauten die Bedingungen? Wenn der Staat sich selbst tötet, tut er es, um sich zu ändern oder um zu bleiben, wie er ist? Tut er es, um die eigene Vergangenheit auszuradieren oder um sich eine Zukunft zu sichern? Tut er es, um am runden Tisch heimlicher Abmachungen einen Stich machen zu können oder weil er so tief in der Scheiße steckt, dass es keine Hoffnung mehr gibt, sauber wieder herauszukommen?
Alles in einem Sommer. Das erscheint unmöglich. Es ist unmöglich.
Es hat vorher angefangen, vor dem Mauerfall. Und es ist mit den Verurteilungen des Maxi-Prozesses weitergegangen. Die
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