Bleiernes Schweigen
mehr denn je einen einzigartigen Beitrag für die Wahrheit und Gerechtigkeit in unserem Land leisten. Was die Gerüchte über die Probleme innerhalb des Unternehmens betrifft, möchten wir sämtlichen Mitarbeitern und Aktionären versichern, dass wir unermüdlich daran arbeiten, ihren Arbeitsplatz sowie die Zukunft der Perseo zu sichern.
Er hatte persönlich unterschrieben, das war das Erste, was Adriano aufgefallen war. Er hatte Marsigli mit Signor und nicht mit
Dottore
tituliert, obwohl ihm das bei zwei Hochschulabschlüssen zugestanden hätte. Und vor allem schasste er den Uralt-Freund völlig schonungslos und ohne Pardon.
Das hatte er stets getan, wenn einer seiner Manager das Gesetz allzu eifrig verbogen hatte. Doch niemals derart entschlossen und unmittelbar.
Das ist der richtige Mann für die italienische Politik, hieß es bereits.
Noch ein Fehler in jenem endlosen Jahr. Und noch eine Obsession: die Suche nach dem Mann der Vorsehung, der die Gegenwart auslöschte, die Vergangenheit vergessen machte und den Menschen einen Traum schenkte.
Zwei Wochen nach der Presseerklärung und einen Monat vor dem Beginn des ersten großen Tangentopoli-Prozesses war Francesco Cèrcasi aufgetaucht.
Der Sommer war seit wenigen Tagen zu Ende, die Fernsehsendungen nahmen ihre Arbeit wieder auf, und jemand hatte meinem Vater erzählt, dass Cèrcasi unbedingt zur besten Sendezeit vor die Kamera wollte. Der Grund war am Donnerstag darauf klargeworden.
Der Präsident einer der größten öffentlichen Banken Italiens hatte sich mit einer schwarzen Mappe auf den Knien und ruhiger, entschlossener Miene ins Studio gesetzt. Er trug einen dunklen Anzug und hatte sich eine neue Brille mit dünnem, fast unsichtbarem Metallrahmen zugelegt. Dann hatte er wie ein alter Hase direkt in die Kamera geblickt und angefangen zu reden. Kein Zögern, kein Schwanken, nicht der leiseste Hauch von Furcht. Nur vielleicht ein ferner Schmerz, der mit den ersten Worten sofort verflogen war.
Er hatte von Schmiergeldern in Höhe von mehreren Dutzend Milliarden, Hinterziehung öffentlicher Gelder und auf Strohmänner zugelassenen Konten erzählt, über die die Schmiergelder flossen. Die Mappe enthielt die Beweise für alles, Namen, Kontonummern, Begünstigte.
Zuletzt hatte er sein Kündigungsschreiben hochgehalten. Er hatte den Posten vor weniger als einem Jahr angetreten und gedachte nicht, ihn weiter zu bekleiden.
»Dieses Land braucht politische und intellektuelle Aufrichtigkeit«, hatte sein letzter Satz gelautet. Am nächsten Tag landete er auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen.
Es folgten weitere Einladungen ins Fernsehen. Die Krönung war ein Wortduell mit einem ehemaligen Minister zahlreicher christdemokratischer Regierungen, der versucht hatte, ihn in eine Schmiergeldaffäre zu verwickeln, und mit der Verkündigung, er werde die Politik für immer verlassen, aus dem Studio gestürmt war.
Binnen zweier Wochen war Cèrcasi zum Leitstern Italiensaufgestiegen. Weitere drei Wochen später hatte er seine Kandidatur verkündet. Eine Bürgerliste namens
Italia Pulita
, Sauberes Italien, dem Beispiel von Gemeinden und Provinzen folgend und zum ersten Mal im Mehrheitswahlsystem. Zur Unterstützung seiner Kampagne hatte er eine Unterschriftensammlung nach amerikanischem Vorbild initiiert. Er klapperte ganz Italien ab, Gemeinde für Gemeinde, traf die Menschen, hörte zu und sammelte Spenden.
Wenige Monate später hatte er es geschafft. Noch keine fünfzig Jahre alt, war er der jüngste Ministerpräsident der Geschichte geworden. In seiner ersten Rede vor der Abgeordnetenkammer hatte er Fabrizio De André zitiert: »Wir arbeiten, damit auf diesem riesigen Misthaufen eine herrliche Blume wächst.« Es folgte das Vertrauensvotum des Parlaments, ein regelrechtes Referendum, mit Enthaltung der Opposition.
Die Zeit der Bomben war vorbei. Es sollten keine mehr folgen.
Von Luca Rossini und der Perseo hörte man nichts mehr.
Gegen Cèrcasi wirkte alles andere alt. Das hatte Adriano auch gedacht, als er ihn einen Monat nach seiner Rede interviewte.
Italia Pulita
war die Gegenwart und die Zukunft. Die Hoffnung und die Gewähr. Für alle anderen blieb nur Schweigen.
Der Grat zwischen Suche und Obsession ist sehr schmal. Er durchzieht die Vernunft, die Kälte, das unvermeidliche Verhältnis eines jeden von uns mit dem Wahnsinn, den Raum, den wir unserem instinktiven Handeln, unserer Entfernung vom Alltag, unserem unerklärbaren Tun zugestehen.
Nach
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