Bleiernes Schweigen
meiner Rückkehr von Ferrarini habe ich über einen Monat mit dieser Gratwanderung zugebracht und die Nummern in Elenas Notizen mit den erhaltenen Unterlagen abgeglichen. Ich habe mein Leben ins Koma versetzt, mich von allem anderen abgeschottet und versucht, nicht allzu sehr abzudriften.
Doch zunächst habe ich meinem Vater und Daniele eine Kopie sämtlicher Unterlagen zukommen lassen. Bei Adriano war das einfach, unsere Parkspaziergänge finden so häufig statt, dass sie gar nicht mehr auffallen. Den Richter zu treffen war schon schwieriger.
»Ich habe dir ein Geschenk von der Insel mitgebracht«, hatte ich ihm gesagt, als ich ihn endlich am Telefon hatte.
»Ich hoffe, es ist das heiß ersehnte T-Shirt«, hatte er geantwortet, und ich stand in meiner Küche und musste grinsen.
Wir trafen uns am nächsten Tag bei ihm. Ein knapp halbstündiger Höflichkeitsbesuch. Gleich an der Haustür habe ich ihm die Tüte mit dem Ralph-Lauren-Shirt gegeben, damit jeder es sehen konnte. Darin befand sich eine Kopie aller Unterlagen, die ich erhalten hatte, und dazu ein mit Druckbuchstaben beschriebenes A-4-Blatt, auf dem ich versucht hatte, die beiden Treffen zusammenzufassen.
»Ich habe Andrea gesehen«, hat er mir gesagt. »Er meinte, ihr spielt noch immer Fußball.«
Kurz darauf haben wir uns verabschiedet, anderthalb Stunden später war ich wieder zu Hause. Ich habe die Tüte mit den Unterlagen aufs Bett gestellt, den Computer angemacht und mit der Arbeit begonnen.
Vierunddreißig Tage lang habe ich, von meinem Vater abgesehen, mit niemanden gesprochen. Mit ihm bin ich ein paarmal in der Woche in den Park gegangen. Kurze Begegnungen, die Vortäuschung normalen Lebens. Über die Unterlagen verloren wir kein Wort.
Derweil ist ein Jahr dem nächsten gewichen. Dann, am Morgen des vierunddreißigsten Tages, hat das Handy geklingelt. Andrea war dran. Als wäre nichts dabei.
»Was hältst du davon, wenn ich dich zum Abendessen einlade?«
Die Wohnung ist im obersten Stock eines Hauses im Stadtzentrum. Unten in der Straße Kinder auf dem Schulweg,ein Kiosk, Busse, Autoschlangen, ein Supermarkt. Ein paar Meter weiter ein Fast-Food-Restaurant. Auf der Klingel steht Sarti, und ich bin mir so gut wie sicher, dass das nicht Andreas Nachname ist.
Die Einrichtung ist einfach, unpersönlich und verrät nichts über ihren Benutzer. Es gibt weder Bilder noch Fotos, und das einzige Bücherregal wird von einem Lexikon und drei Wörterbüchern in Beschlag genommen. Italienisch, Englisch und Französisch.
Standardausstattung. Ich bin noch nie in einer Tarnwohnung gewesen und weiß, das ich darin nicht leben könnte.
Daniele trifft als Letzter ein und redet als Erster. Eine Stunde später ist der Tisch vollgekramt mit Unterlagen, Kaffeebechern, Saftgläsern, Notizblöcken und Kulis, und jeder von uns ist auf dem gleichen Informationsstand.
»Ich weiß, was die Nummern in Elenas Unterlagen bedeuten.« Der Satz bricht die Stille, die das Zimmer erfüllt.
In den Unterlagen meiner Frau gibt es seitenweise Zahlen ohne jeglichen Bezug. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie Summanden einer Rechnung. Sie hatte sie in einer Art Tabelle zu Gruppen zusammengefasst. Jede Gruppe ist mit einer Zahl überschrieben. Manche sind nur vierstellig, andere zwölfstellig. Darunter folgen zwei Nummern pro Zeile und ein Textcode – ein Kontoauszug. Nur dass die Gesamtsumme nie den Summanden entspricht.
Dank Ferrarinis Unterlagen konnte ich diese Daten entziffern. Die Zahlen der Tabellenüberschriften sind die gleichen: Bankkonten.
Ansonsten hat Elena nur die Spuren verwischen wollen: Sie hat die Summenabfolge der Transaktionsdaten geändert und nach einem anderen System die Ziffern der jeweiligen Geldflüsse durcheinandergebracht. Deshalb stimmt die Summe nie.
Neben jeden Geldausgang hat sie einen Code aus drei Buchstaben geschrieben, der für eine Stadt steht. Dazu hatsie die Flughafenkürzel verwendet und vorne und hinten einen beliebigen Buchstaben angefügt. Das Ziel des Geldes. Der Punkt, an dem sich die Spuren verlieren. Die Kaimaninseln, die Bahamas, die Schweiz.
Sobald das Rätsel gelöst war, hat sich alles wie von selbst ergeben. Man braucht ihre Daten nur mit Ferrarinis abzugleichen, und schon hat man die Kontoinhaber und weiß, wie viel Geld sie an welchem Tag, in welchem Monat welchen Jahres in welches Steuerparadies bewegt haben.
Nummernkonten, die riesige Geldsummen zwischen der Schweiz, Südamerika, den Bahamas und den Karibischen
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