Bleiernes Schweigen
denken kann, und weiß noch immer nicht, wer er ist.
Wir haben ein Glas Wein getrunken, sauteures Zeug, das er
wer weiß wo aufgetrieben hat. Ich verstehe nichts von Wein, aber ich kann gut schauspielern. Genau wie M.
Er verabscheut Intellektuelle noch mehr als ich, dabei würde er nichts lieber sein als das.
Ich weiß nicht, was ich gern sein würde. Ich weiß, was ich gern tun würde. Ich weiß immer, was ich tue.
Es ist wichtig, ein Ziel im Leben zu haben. Das kann auch ein Traum sein, allerdings mit der Aussicht auf Verwirklichung.
Es gibt nichts, was ich gewollt und nicht bekommen hätte. Keine Frau hat mir je einen Korb gegeben. Kein Projekt ist ein Luftschloss geblieben.
Dennoch fühle ich mich in letzter Zeit oft allein.
Vor ein paar Monaten habe ich mit Pater F. darüber geredet. Er hat mir gesagt, ich solle Vertrauen haben in Gott. Ich solle nicht aufhören zu beten und daran glauben, dass es für mich einen vorgezeichneten Weg gibt. Als er gegangen ist, habe ich mich gefragt, ob das als Beichte gilt, auch wenn wir bei mir zu Hause waren. Ob er an sein Schweigegebot gebunden ist oder alles herausposaunen darf.
Der Gedanke daran war mir unerträglich. Ich habe ihn angerufen und gefragt. Eine solche Unsicherheit ertrage ich nicht, ich muss wissen, was los ist.
Mit M. habe ich nie darüber gesprochen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich ihm nie vertraut. Dennoch habe ich keine Wahl, ich höre ihm zu, folge seinen Gedankengängen und treffe eine Entscheidung. Fast immer richte ich mich nach seinen Ratschlägen. Manchmal frage ich mich, ob er meine Gedanken lesen kann.
Auch diese Sache mit dem Tagebuch. Ich wollte es nicht schreiben, ich will es nicht, und doch sitze ich hier. Schwachsinn. Alles Schwachsinn. Ich schreibe nicht weiter.
»Es gibt keine endgültige Vergebung für das, was wir tun. Und das Schreckliche ist, dass man das nie vergisst.«
Andrew Sean Greer,
Geschichte einer Ehe
»Ich bin im Zug. Geht’s dir gut?«
Adriano antwortet mit einer Floskel, um unser Telefonat abzuwürgen und wieder für sich zu sein. Er liegt auf dem Sofa vor dem laufenden Fernseher und hält ein Taschenbuch in den Händen, ohne darin zu lesen.
Er ist müde, nervös, unfähig, das Gefühl der Verunsicherung zu verscheuchen, dass seit seinem Treffen mit dem Mann mit der Zigarette alles zu überschatten scheint und ihn manchmal sogar daran hindert, einen klaren Gedanken zu fassen.
Er legt sich das Buch auf die Brust, und der Bildschirm nimmt das gesamte Blickfeld ein.
Ein Beitrag über den Irak oder ein Kriegsfilm-Trailer, man weiß es nicht genau.
Er tastet nach der Fernbedienung und findet zwei. Mit der einen stellt er den Fernseher ab, mit der anderen startet er ein Stück von Sonny Rollins, in der irrigen Hoffnung, die Welt könnte dadurch zu einem besseren Ort werden.
Er schließt die Augen, lauscht der Musik, versucht, den Gedanken, der ihn schon seit Tagen verfolgt, zum Schweigen zu bringen. Unermüdlich bohrt er weiter, wie ein nagendes Gewissen, stiehlt sich zwischen einen Atemzug und den nächsten, gibt keine Ruhe.
Adriano öffnet die Augen. Stoppt die Musik. Macht den Fernseher an.
Der Spot einer Realityshow. Er schaltet weiter. Die zweite Halbzeit eines Fußballspiels. Weiter. Ein Beitrag über eineFrau, die ihr Kind zu Hause zur Welt gebracht und es anschließend in der Badewanne ertränkt hat. Weiter. Ein amerikanischer Spielfilm. Marrakesch, James Stewart, Doris Day.
»
Que sera sera
«, summt er vor sich hin und feixt über seine Dämlichkeit. Weiter.
Das Gesicht von Davide Mirri. Im Hintergrund sein Segelboot. Die Nachrichtenmeldung, die seinen Selbstmord bekanntgibt. Er legt die Fernbedienung weg. Seit einer Ewigkeit hat er diese Bilder nicht mehr gesehen, und die Untersuchung, die dort präsentiert wird, lässt sich mit seinen Erinnerungen nicht vereinbaren. Davide Mirri war ein Spieler, und Adriano hat sich oft gefragt, was aus ihm geworden wäre, wenn er jene Jahre und die Ermittlungen überlebt hätte, wenn der Partner, den er sich ins Boot geholt hatte, nicht so ein dicker Brocken gewesen wäre.
Mit Vermutungen lässt sich keine Zukunft gestalten, war sein Lieblingssatz, der heute sehr nach einer Lüge klingt. Adriano lebt von Vermutungen. Tag für Tag geht er neuen Vermutungen nach, fügt Einzelheiten zusammen, sucht nach dem Bild, das sich hinter den zu verbindenden Punkten verbirgt und das ebenso gut nie erkennbar werden könnte, so kleinteilig und wirr wie es ist.
Er
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