Bleiernes Schweigen
ihr manchmal das Gesamtbild aus den Augen verliert. Bei Namen und Rollen macht ihr Halt. Und selbst wenn ihr kurz vor der Wahrheit steht und sie fast greifen könnt, wagt ihr keinen weiteren Schritt. Ihr seid wie ängstliche Kinder, Adriano.«
»Das stimmt nicht und das weißt du.«
Der Mann mit der Zigarette hört nicht hin.
»Wer, glaubst du, ist Patrizio Benetti?«
»Einer zwischen den Geheimdiensten und …«
»Siehst du? Siehst du? Wer, glaubst du, ist der, den Elena den Werwolf nannte?«
Er seufzt.
»Glaubst du, Profikiller gibt’s nur im Kino? Glaubst du, es gibt keine Leute, die das beruflich machen? Glaubst du wirklich, der Staat hätte sich in all dieser Zeit nie solcher Leute bedient? Das sind staatliche Mörder, Adriano. Leute, die eingesetzt werden, wenn es jemanden auszuschalten gilt. Die stehen nicht auf der Gehaltsliste des Geheimdienstes. Die sind nicht vorhanden, sie existieren nicht. Manchmal sind sie so gut, dass sie – wie soll ich sagen? – auf dem Markt bleiben und für jemand anders arbeiten. Benetti zum Beispiel hat für die ’Ndrangheta gearbeitet.«
Mit einer Handbewegung schneidet Adriano ihm das Wort ab.
»Eines musst du mir erklären«, sagt er.
Der Mann mit der Zigarette steht auf.
»Nein. Meine Zeit ist um. Ich bin tot.«
Er steckt die Hand in die Tasche, zieht einen Umschlag hervor und legt ihn auf den Tisch.
»Was ist das?«
»Das letzte Geschenk, das ich dir machen kann. Ich hoffe, es hilft dir, einiges zu verstehen.«
Adriano sieht den Umschlag nicht an.
»Sind wir wieder am selben Punkt wie damals? Glaubst du, du kannst mir wieder eine Spur hinwerfen und ich renne ihr nach?«
Der Mann mit der Zigarette antwortet nicht. Adriano senkt die Stimme. Plötzlich ist der Geruch jener Straße in Palermo wieder da. Die geschwärzten Mauern, die Laken am Boden, die Hydranten, der Tod.
Er schiebt den Rollstuhl ein Stück nach vorn.
»Bist du noch immer so feige, dich zwanzig Jahre lang zu verdrücken und so zu tun, als träfe dich keine Schuld?«
Er packt ihn am Handgelenk, doch der Mann mit der Zigarette rührt sich nicht. Dann macht er sich mit einer jähen Bewegung los, Adrianos Rollstuhl kippt zur Seite und wird von seinem Gast mit einer blitzschnellen Bewegung abgefangen.
Lächelnd lehnt er sich mit dem Rücken an die Wand.
»Diesmal muss ich nicht abhauen, sondern verschwinden«, raunt er.
»Hau ab, ich hab die Schnauze voll von dir.«
Der Mann schüttelt den Kopf.
»Halt mich ruhig für einen Feigling. Das ist egal. Aber vergiss nicht, dass unser Treffen im Krankenhaus nie stattgefunden hat. Wir haben uns nie gesehen oder miteinander gesprochen. Unsere Abmachung gilt nicht mehr. Ist das klar? Von heute an ist alles wieder bei Null.«
Er erhält keine Antwort. Dann legt er meinem Vater die Hand aufs Knie. Eine Geste, die für ihn einem Abschied am nächsten kommt.
»Es gibt keine Auftraggeber, keine großen alten Männer. Es gibt Beziehungen, Kontakte, aus Bequemlichkeit vollstreckte Strafen, zu denen ein Halbsatz oder ein Lächeln genügt. Es gibt Welten, die niemals untergehen werden, weil sie die ganze Bruchbude zusammenhalten. Ohne sie gäbe es nichts mehr. In jenem Sommer bist du in der Scheiße herumgerudert. Steck den Kopf rein und versuch auf den Grund zu kommen. Wenn die Mauern beben, wird Politik in Italien mit Bomben gemacht.«
»Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß.«
Der Mann mit der Zigarette geht zur Tür.
»Wenn du es weißt, benutz dein Gehirn und handele entsprechend.«
Er deutet auf den Umschlag.
»Hör sie dir gut an. Wäre die Verhandlung öffentlich gewesen, würdest du auf dieser Kassette die entsprechenden Protokolle finden. Doch leider musst du dich mit einer illegalen Aufzeichnung zufriedengeben.«
Adriano reißt den Umschlag auf. Zwei Kassetten sind darin.
»Und die andere?«
»Sagen wir, die ist ein Geschenk. Ein Mann sollte stets wissen, wer seinen Sohn am Telefon bedroht.«
»Wieso heute?«
Der Mann mit der Zigarette zuckt mit den Schultern und versucht zu lächeln.
»Ich mache reinen Tisch. Mit allen. Wenn man beerdigt wird, sollte man keine offenen Rechnungen mehr haben.«
»Aufzeichnung vom 7. Juni 1992.«
Die Stimme hat einen starken sizilianischen Akzent.
Nach diesem ersten Satz folgt auf dem Band minutenlanges Schweigen. Dann hört man eine Tür, ein paar entfernte Worte, Schritte, die sich nähern. Weitere Stimmen, männliche, drei, vielleicht vier. Es lässt sich nicht genau sagen. Ein Stuhl wird
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