Bleiernes Schweigen
ein Krankenhauszimmer, an einen unerwarteten Besuch und eine Entscheidung, die sehr leichtgefallen war.
Der Mann mit der Zigarette nimmt einen nervösen Zug. Als er ihn zum Abendessen getroffen hat, schien die Zeit ihn verschont zu haben. Heute ist alles anders. Als wären die Jahre urplötzlich über ihn hereingebrochen. Der Mensch, der vor ihm sitzt, hat mit dem aus seiner Erinnerung nichts mehr zu tun. Die kühle Sachlichkeit und Selbstsicherheit sind verpufft.
Er ist Abfall, ein Überbleibsel, ein Schiffbrüchiger, der denzigsten Untergang überlebt hat und dem keine Kraft mehr für den nächsten bleibt.
»Ich muss verschwinden«, wiederholt er.
»Und da bist du hierhergekommen?«
Der Mann drückt die Zigarette aus, zündet sich eine neue an und hält sie zwischen den Fingern, ohne daran zu ziehen.
»Wir benutzen euch, wir haben dich immer benutzt.«
»Erzähl mir was, das ich noch nicht weiß. Und zwar nach Strich und Faden.«
»Solara. Am Ende dreht sich alles um ihn. Eigentlich lustig, wenn man drüber nachdenkt.«
»Früher oder später kommen sie drauf.«
»Glaubst du? Da bin ich mir gar nicht so sicher.« Er nimmt einen Zug. Noch einen. »In jenem Sommer haben wir verloren. Eine Schlappe, eine totale Niederlage, aus der es kein Zurück mehr gab. Und dann kam Elena.«
Adriano sieht weg.
»Du schuldest mir eine Geschichte.«
Der Mann mit der Zigarette schweigt. Er starrt auf den Stummel der ersten Zigarette, auf den Aschenbecher, den Tisch, das Spiel der weichen, langen Schatten auf dem Fußboden.
»Stimmt, ich schulde dir eine Geschichte«, murmelt er.
Er blickt auf und sieht meinen Vater an.
Dann beginnt er zu erzählen.
»Der Sommer 1992 war die schlimmste Niederlage meiner Laufbahn, zum ersten Mal hatte ich die Gewissheit, dass der Job, für den ich eingestellt worden war, nicht dem entsprach, was ich erwartet hatte.«
Sofort fällt mein Vater ihm ins Wort.
»Die Sache in Addaura war bereits geschehen.«
»Die Sache in Addaura lag lang zurück. Für jeden mit meinem Job bedeutete das Jahr 1989 einen Wendepunkt. Die Berliner Mauer fällt, den Feind gibt es nicht mehr, man weißnicht, auf welche Seite man sich schlagen soll. Seit einigen Jahren schon wurde darüber geredet, was geschehen würde, wenn der Ostblock zusammenbräche, doch niemand hatte sich ausmalen können, was uns erwartete. Es gab regelrechte Bündnisgeflechte gegen den Kommunismus, die sich von einem Moment zum anderen in Luft auflösten.«
»Auch die Cosa Nostra.«
»Dass die Mafia als Waffe gegen das Aufstreben der Linken benutzt wurde, ist so sonnenklar, dass es nicht wiederholt zu werden braucht. Wir fragten uns, was mit jener Welt geschehen würde. Die Verfilzungen mit der Politik und der Finanzwelt waren so dicht, dass es unmöglich schien, sie zu zerreißen. Und genau damit befasst sich Falcone. Politik und Mafia. Börsennotierte Gesellschaften und Mafia. Freimaurer und Mafia.«
Adriano sieht ihn an. Er streckt die Hand nach seiner aus, greift nach der Zigarette und zieht daran. Der erste Zug seit einer Ewigkeit.
Auch in dieser Küche bricht eine Welt zusammen.
Er gibt die Zigarette zurück.
»Ich habe mich schon oft gefragt, was du von uns wolltest. Elena und ich haben häufig darüber gesprochen. Die Antwort war immer dieselbe.«
Sein Gast nimmt eine Zigarette, zündet sie an und reicht sie meinem Vater.
»Und wie lautete sie?«
Mein Vater betrachtet die Zigarette und sieht zum Rauch empor, der reglos im Zimmer steht.
»Dass ihr keinerlei Macht hattet. Nur Hoffnungen. Das hat Elena immer gesagt. Diesen Leuten ist nur noch die Hoffnung geblieben.«
Der Mann mit der Zigarette lächelt.
»Hoffnung auf was?«
»Lass mich ausreden. Sie sagte, ihr könntet nichts ausrichten. Eine andere Erklärung gab es für sie nicht.«
»Weil wir nichts unternommen hatten. Das war das Problem.«
»Ganz genau. Ihr hattet keine Macht. Nur die Wahl zwischen leben und sterben. Die einzige Möglichkeit, die euch blieb, war, jemanden zu finden, der verrückt genug war, eure Geschichte aufzuschreiben. Jemanden wie sie.«
Der Mann drückt die Zigarette aus, schiebt sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund, fährt sich mit den Händen übers Gesicht.
»Giuseppe ist am Tag eures Unfalls gestorben. Morgens. Ein missglückter Raubüberfall. Der Täter ist nie gefunden worden.«
Er starrt auf das Bonbonpapier. Dann faltet er es zusammen und wirft es in den Aschenbecher. »Wir wollten jemanden, der für uns die ganze
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