Bleiernes Schweigen

Recht. Sie brauchen mir keine Gelassenheit vorzuspielen.«
    »Ich meinte es ernst. Allzu lange habe ich es vermieden, nach links und rechts zu schauen. Jetzt bleibt mir nur noch Trauer. Meine Frau, mein Vater.« Ich sehe sie an. »Ich habe Angst um Giulia.«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Das brauchen Sie nicht. Es ist vorbei. Für Sie und auch für uns. Wenn sich eine neue Gelegenheit ergibt, werden wir es wieder versuchen. Aber das betrifft Sie nicht mehr.«
    Ich rauche schweigend zu Ende.
    »Das ist nur ein Teil der Geschichte«, sage ich.
    »Kennen Sie einen anderen?«
    »Wenn Sie mir noch eine Zigarette geben, erzähle ich sie Ihnen.«
    Wir zünden uns zwei an.
    »Als Kind habe ich ein Spiel gespielt«, fange ich an. »Dazu brauchte man nur ein Foto und eine Schachtel mit einem Loch drin. Man legte die Schachtel auf das Foto und durfte sie drei- höchstens viermal verschieben. Durch das Loch war nur ein winziger Ausschnitt des Fotos zu sehen.«
    Ich ziehe an meiner Zigarette und sehe sie an.
    »Und haben Sie oft gewonnen?«
    »Wenn man bei so einem Spiel gewinnen will, muss man den Unterschied zwischen Vermutung und Wahrheit kennen. Die Grenze finden. Wenn man eine Mähne, einen Huf, einen Schweif sieht. Wenn es scheint, als hätte das Tier kurzes Fell und vielleicht ein großes weißes Gebiss, was braucht man noch, um sagen zu können, es handelt sich um ein Pferd?«
    Clara raucht.
    »Erzählen Sie mir die Geschichte«, sagt sie.
    Ich nehme einen Zug. Nur einen.
    Dann hole ich Luft.
     
    In meiner Geschichte ist von einem Mann die Rede, den alle kennen und von dem niemand weiß, wer er ist. Von einem Jungen, der den Namen und das Vermögen einer alten Familieretten will, die kurz vor dem Bankrott steht. Von einem Freund, der ihm einen Deal vorschlägt. Es gibt da jemanden, der Geld investieren will, wenn du eine gute Idee hast. Ich kann dir helfen. Du bist schlau, so ein Angebot schlägst du nicht aus. Und es ist egal, ob dein Investor Capobianco heißt. Vielleicht weißt du es noch nicht einmal. Es ist egal, woher das Geld stammt oder ob die Bank, die es dir leiht, nach Mafia riecht. Geld stinkt nicht, das wissen alle.
    Und die Geschäfte laufen gut, der Familienname fängt wieder an zu glänzen, du rückst ins Blickfeld von Politik und Wirtschaft. Da ist nichts Seltsames dran. Denn in Politik und Wirtschaft gibt es Leute, die auf sehr viel höherer Ebene mit der Cosa Nostra kungeln. Sie würden deinen Erfolg gern unterstützen, denn die katholische Finanzwirtschaft steht in Italien nicht besonders gut da und bräuchte ein Aushängeschild. Und du bist katholisch. Und wie.
    Also kommt deren Geld auch noch hinzu. Von den Longos, den Di Donnas. Sie zahlen aus eigener Tasche, und womöglich auf einen guten Tipp hin zieht die sizilianische Cosa Nostra nach. Die Nummer eins höchstpersönlich, Stefano Viola. Und so werden deine Taschen immer voller. Dank der alten Geldgeber, der kleinen Schweizer Rauschgifthändler. Und dank der neuen, der Banker, die sich in der Politik und in Sizilien starkmachen.
    Und du, der kleine Junge, bist ein Renaissanceprinz, ein Genie, ein Superhirn, das niemals schläft, das niemals stillsteht. Du erfindest, erschaffst, suchst neue Wege. Du kannst nicht in großem Maßstab denken, bei dir ist alles gigantisch und revolutionär. Es ist deine Chance, dein Moment, du bist der würdige Nachfolger. So wie Di Donna Longo erst unterstützt und dann ersetzt hat.
    Die Methoden sind die gleichen. Es ist egal, wen es zu unterstützen gilt oder welche Kompromisse man machen muss, das Drumherum interessiert nicht. Es ist egal, wenn ein Anteil dessen, was eigentlich dir gehört, in Wirklichkeit von jemandanders ist und auch, was der mit dem Geld macht, das er durch dich verdient. Es interessiert dich nicht, du würdest alles tun, um nach oben zu kommen. Du würdest dich blind stellen, um furchtlos zu wirken.
    Das Mittel dient dem Zweck, Anstand ist ein Schmutzfleck, den du dir mit einer gehörigen Portion Schuhcreme von den Schuhen wischst.
    Es ist alles ganz leicht.
    Ich sehe es vor mir, wie der Junge das zu seinem Spiegelbild sagt.
    Du bist Schauspieler, du bist Banker, du bist gut, du bist schön, die Frauen vergöttern dich. Du bist ein Zauberer, und die Welt ist dein Kaninchen.
    Dann, eines Tages, fängt der Motor an zu mucken. Vielleicht war das Wachstum zu groß, vielleicht verbrennt der Schmierstoff, mit dem du das Getriebe ölst, zu viel Geld. Und auch deine Politikerfreunde, die für ihre