Bleiernes Schweigen
Zeit zu gehen.
»Es fehlt noch was«, sage ich.
Sie nickt.
»Ignazio Solara.«
Ohne Hast betritt sie die Halle und bleibt wenige Meter vor dem Auto stehen. Der Glatzkopf steht neben der Fahrertür.
»Haben Sie
Der unsichtbare Dritte
gesehen?«
»Den Hitchcock-Film?«
Clara nickt.
»Genau, der mit Cary Grant.«
»George Kaplan«, sage ich und muss lachen. Der Mann, den es nicht gibt und hinter dem alle her sind. Der Spion, der alle in die Irre leitet.
»Als wir beschlossen haben, in Aktion zu treten, brauchten wir ein Ablenkungsmanöver. In unserem Job ist die Tarnung genauso wichtig wie die Aktion selbst, vor allem, wenn man im eigenen Gewässer fischt. Also ist irgendjemand auf diesen Film gekommen, und wir haben uns Ignazio Solara ausgedacht. Wir haben ihn in diversen Hotels absteigen lassen, und jedes Mal, wenn jemand die Fühler ausstreckte, haben wir den Verdacht auf Solara gelenkt. Mit der Zeit ist er zu einer Legende geworden. Die Cosa Nostra fing an, ihn zu fürchten und sich zu fragen, wer das sei und ob es sich vielleicht um den Decknamen handelte, mit dem ihre Verbindungsleute ein doppeltes Spiel trieben. Und wir haben die Gerüchte natürlich befeuert. Das Mädchen, dass Sie im Gericht getroffen haben, Michela, ist nicht wegen Solara gestorben. Sie ist gestorben, weil sie durchschaut hatte, für wen er arbeitete.«
»Elena wusste es?«
Clara öffnet die Autotür.
»Ihre Frau war etwas Besonderes. Aber das muss ich Ihnen nicht sagen.« Sie hält mir die Hand hin. Ich drücke sie. Eine allzu kurze Berührung.
»Das ist dann wohl das Ende.«
Clara nickt.
»Man muss wissen, wann es Zeit ist aufzuhören.«
»Das klingt wie eine Kapitulation.«
Sie antwortet sofort.
»Ganz und gar nicht. Ich bin jung. Ich werde auch noch hier sein, wenn Rossinis Geschichte zu Ende geht. Wenn Sie wollen, gehen wir dann zusammen einen Kaffee trinken.«
Wir müssen es tun. Du musst es tun.
Das habe ich ihm gesagt, und zum ersten Mal habe ich gemerkt, wie es ist, ein Menschenleben in der Hand zu haben. Er hing an meinem Blick, starrte mich an, bat um Gnade, versuchte vergeblich, sich zu befreien.
Das war ich, nicht er. Das war ich vor tausend Jahren, und er in diesem Moment.
Das war ich, als mein Leben sich änderte und er, der spürte, wie sein Leben ein anderes wurde.
Ich war Herr, nicht mehr Sklave. Beherrscher und nicht Beherrschter.
Ich habe ihm gesagt, was ich vorhatte. Ich habe ihm gesagt, wie die Bedingungen lauten. Ich habe ihm gesagt, was passieren würde, wenn er nicht einschlug. Ich habe ihm von den Toten erzählt. Ich habe ihm von den Bomben erzählt. Ich habe ihm aufgetragen, das Richtige zu tun, und gesagt, es gebe keine Wahl.
Ich habe ihm gesagt, ich würde ihn nicht im Stich lassen. Und noch während ich es sagte, wusste ich, dass es stimmte.
Sie haben mich nie im Stich gelassen. Sie werden mich nie im Stich lassen.
Ich habe gewonnen.
Ein winziger Augenblick, ein Wimpernschlag, und ich habe gewonnen.
Ich habe den Schmerz und den Untergang besiegt. Ich habe die Angst und den Mut besiegt.
Ich habe die besiegt, die mich tot, und die, die mich lebendig sehen wollten.
Ich habe mich selbst und die Vergangenheit besiegt. Es ist gleich, wie ich es bis hierher geschafft habe. Die Befreiung ist da.
Ich bin Herr über mein Schicksal. Herr über meine Herren.
Sie glauben, sie könnten mich benutzen, und merken nicht, dass ich sie auf ewig benutze.
Der richtige Mann im richtigen Moment. Was meine Vorgänger nicht geschafft haben, ist mir mehr als gründlich gelungen.
Ich werde wieder überleben. Wieder. Und wieder. Und ich werde auch dann aufrecht bleiben, wenn sie glauben, mich fallen zu sehen.
Allein und triumphierend. Ewiger Sieger all meiner Schlachten.
Nach dem Treffen mit Clara bin ich nach Hause gefahren. Sofort, noch am selben Abend. Ich habe meine Sachen gepackt und bin in den Flieger gestiegen. Palermo ist in der Ferne verschwunden, dann Sizilien, und schließlich war da nur noch das Meer.
Zu Hause erwarteten mich die Kälte und die Erinnerungen. Das Gefühl, das ganze Leben lang gerannt zu sein, gejagt von einem wilden Tier, dem ich nicht entrinnen kann. Die dumpfe Befürchtung, meine Existenz und meine Familie zerstört zu haben, weil ich eine Straße einschlug, die von Anfang an nach Tod roch.
Und ein Brief im Briefkasten.
Derselbe, der die ganze Zeit neben mir lag, während ich diese Zeilen schrieb.
Er beginnt so:
D iese Geschichte lässt sich nicht beweisen, und
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