Bleiernes Schweigen
aufzufüllen. Es heißt, er sei Italiener wie ich und verschwinde monatelang, ohne dass ihn jemand hätte wegfahren oder zurückkommen sehen.
Ich höre zu, nicke hin und wieder und trinke mein Bier. Ich denke an den Brief, den ich ihm sofort nach Benettis Verschwinden geschrieben habe. Am nächsten Morgen habe ich das Hotel gebeten, einen Boten zu schicken, und zum Mittagessen wurde mir gesagt, er sei abgegeben worden.
Seitdem sind zwei Tage vergangen, und nichts ist passiert.
Ich würde gern weg von hier, und das hat nichts mit den Preisen zu tun. Ich habe seit Jahren keine Ferien mehr gemacht und kann es mir leisten. Es ist diese Heuchelei, die mich fertigmacht. Die Insel ist eine Pappmaché-Kulisse, in der niemand ist, was er zu sein vorgibt, von den Touristen bis zu den Zollbeamten, und alle scheinen Geheimnisse mit sich herumzuschleppen, für die sie sich eines Tages werden verantworten müssen. Zumindest vor sich selbst.
Ich stehe auf, zahle mein Bier und verabschiede mich. Nach ein paar Schritten bleibe ich stehen.
Neben meinem Auto steht ein SUV. Schwarz, frisch gewaschen. Neben der Fahrertür steht ein Mann. Nicht besonders groß, kahle Schläfen, Sonnenbrille, weißes Hemd, dunkelblaue Shorts mit vielen Taschen, Segelschuhe.
Er wartet, bis ich näher komme.
»Sie hatten nach mir gefragt«, sagt er. »Marco Di Donna. Der Besitzer des Hauses.«
Das Telefon klingelt um zehn vor eins. Die junge Frau hat gerade auf die Uhr gesehen. Sie würde am liebsten gehen, ihr Kopf schmerzt, als hätte sie ihn in eine Hydraulikpresse gesteckt.
Gerade wühlt sie in ihrer Tasche nach einer Schmerztablette, als sie das erste Klingeln hört. Während der Anrufbeantworter drangeht, gießt sie sich ein Glas Wasser ein. Reglos bleibt sie neben dem Wasserspender stehen. In der einen Hand die Tablette, in der anderen das Wasserglas.
Sie wartet, bis die Stimme eine Nachricht hinterlässt, dann geht sie zum Schreibtisch, stellt das Glas ab und greift zum Telefon.
»Womöglich haben wir ein Problem«, sagt sie und legt wieder auf.
Sie steht auf, geht zur Tür und sieht nach, ob sie geschlossen ist. Dann setzt sie sich wieder, lässt sich gegen die Stuhllehne fallen und versucht, ruhig durchzuatmen. Plötzlich springt sie auf und rennt ins Bad. Sie glaubt, sich übergeben zu müssen, doch es passiert nichts. Sie wäscht sich das Gesicht. Kaltes Wasser, so eisig wie möglich. Sie umklammert den Waschbeckenrand und mustert sich im Spiegel.
»Ich bin der letzte Dreck«, sagt sie in den leeren Raum hinein. Sie ordnet sich das Haar und wischt sich die Schminke zurecht. Automatische Handgriffe, um wieder den richtigen Abstand zur Welt zu bekommen.
Diese Geschichte muss so bald wie möglich aufhören, denkt sie. Dann hört sie, wie die Tür sich öffnet.
Die Person, auf die sie gewartet hat, ist gekommen.
»Geht’s dir gut?«, fragt sie.
Die junge Frau starrt auf den Schreibtisch, wirft die Tablette ein und trinkt einen Schluck.
»Klar«, antwortet sie. »Wie immer.«
Der Junge parkt das Moped und nimmt den Helm ab. Der Wind trifft ihn völlig unvermittelt und er sieht auf. Es fängt gleich an zu regnen. Wenn er sich beeilt, könnte er seinen Job noch zu Ende bringen und es nach Hause schaffen, ohne klatschnass zu werden.
Er klemmt den Helm unter den Arm und blickt sich prüfend um. Um den richtigen Ort zu finden, hat er das ganze Viertel mehrmals abgeklappert. Die Bedingungen sind ganz klar: keine öffentlichen Lokale, keine indiskreten Blicke, keine belebten Plätze.
Das, was er vor sich hat, ist perfekt.
Wer A sagt, muss auch B sagen, denkt er und betritt die Telefonzelle.
Er holt die Telefonkarte und den Zettel aus der Tasche, liest die Nummer, drückt die Tasten, wartet, bis der Anrufbeantworter anspringt, und hinterlässt die Nachricht.
Er hat sie auswendig gelernt, genau nach den Vorgaben. Sie muss natürlich klingen, wenn man abliest, hört man das sofort. Klar, logisch. Schade nur, dass er nicht den blassesten Schimmer hat, was er hier eigentlich tut.
»Guten Abend, ich suche eine Wohnung in der Nähe der Fin Art. Ich hatte gehofft, mit einem Ihrer Mitarbeiter sprechen zu können. Ich heiße Ignazio Larinzetti Solara. Ich melde mich bald wieder.«
Er legt auf, steckt den Zettel in die Tasche, setzt den Helm auf, schwingt sich aufs Moped und fährt. Eine halbe Stunde später ist er am verabredeten Ort. Die Person, auf die er wartet, kommt mit fünf Minuten Verspätung und entschuldigt sich.
Er ist
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