Bleiernes Schweigen
das zu recht. Es ist meine Schuld. Sagen wir, ich habe eine ganze Weltkarte aufgezeichnet, um Ihnen zu zeigen, wo sich eine Insel befindet, wenn Sie mir die Metapher erlauben. Mal sehe, ob ich Sie auf die richtige Spur setzen kann. Wissen Sie, was am 21. Juni 1989 in Addaura bei Palermo passiert ist?«
»Das gescheiterte Attentat auf Giovanni Falcone.«
Er schüttelt den Kopf.
»Nein. Seien Sie nicht oberflächlich. Das ist die landläufige Version, die nur auf den Titel schaut und sich nicht um die Handlung kümmert.«
Er hat recht. An jenem Sommertag waren sie in Falcones Villa zu dritt. Der Hausherr und zwei Schweizer Richter. Sie ermitteln im Fall eines Geldwäschekreislaufes, der über die UBS Lugano führt. Geld vom internationalen Rauschgifthandel und seinen Betreibern. Den Capobiancos.
Gerade will ich es Di Donna sagen, da macht er mir ein Zeichen zu schweigen und stößt sich vom Tresen ab.
Ich brauche ein paar Sekunden, um es zu bemerken.
Anfangs klingt es wie das leise Knarren eines Möbelstücks, eines dieser gedämpften, nächtlichen Geräusche, die völlig unvermittelt auftauchen.
Es scheint von der Wand hinter mir zu kommen. Doch das ist völlig absurd. Da ist kein Möbelstück, das knarren kann.
Es sind Schritte.
Eine Treppe über uns läuft jemand im Haus herum.
Der gepanzerte Wagen ist schnell. Er überquert eine Straße und fährt am Fluss entlang, der zu dieser Tageszeit schwarz ist. Fast unsichtbar. Daniele sitzt auf dem Rücksitz, sein Blick ist auf die Welt geheftet, die an seinem Fenster vorüberzieht.
Seine Gedanken sind weit weg, auf der Flucht vor den Schuldgefühlen, die er nicht unterdrücken kann.
Dieses Gesicht werde ich nie vergessen, Dottore.
Ich hätte vor langer Zeit etwas unternehmen sollen, denkt er. In jenem Sommer hätte ich etwas unternehmen sollen. Ich hätte früher dahinterkommen sollen, wie die Sache läuft. Ich hätte vermeiden können, dass alles vor die Hunde geht.
Vielleicht.
Er schließt die Augen. Sofort sieht er das Gesicht, dieses Gesicht vor sich. Er hat es nie gesehen, doch so stellt er es sich vor, so hat er es sich vorzustellen versucht, seit dem ersten Mal, als er davon gehört hat. Zweifellos kann sich jeder daran erinnern. Doch niemand weiß, wer es ist.
Ich werde dieses Gesicht nie vergessen.
Den Alten diesen Satz sagen zu hören war ihm erschienen wie ein Hinterhalt.
Alles in seinem Leben hat den fauligen Geschmack der Vergangenheit, die er so gerne hinter sich gelassen hätte. Und gleichzeitig scheint nun alles zum perfekten Zeitpunkt zu passieren, um die begangenen Fehler wiedergutmachen zu können. Oder zumindest Gerechtigkeit üben zu können.
Das hätte er schon seit langer Zeit tun sollen. Seit er diesen Satz von jemand anders gehört hat. Damals gab es noch Hoffnung.
Heute, da viele Dinge, die er hatte beiseiteschieben müssen, wieder hochkommen, hat er das Gefühl, auf einem fremden Planeten gelebt zu haben, in einer Art Wahnvorstellung, dem lächerlichen, tröstlichen Versuch, der Wahrheit nicht ins Auge zu blicken.
Er öffnet die Augen. Die Tasche liegt neben ihm. Gleich nachdem er ins Auto gestiegen ist, hat er angefangen zu suchen. Es hat nicht lange gedauert.
In Elenas Unterlagen gibt es ein paar handschriftliche Aufzeichnungen, mehr oder weniger lange Texte ohne Datum, die sich zeitlich oft schwer einordnen lassen. Darunter die, die er in den Händen hält.
Ich habe den Werwolf gesehen, schreibt sie . Alles, was über ihn gesagt wird, trifft mehr als zu. Ich würde ihn gern für verrückt halten, aber das ist er nicht. Literatur ist tröstlich, doch an ihm ist nichts Tröstliches. Dieser Mann ist der Staat, wie ich ihn in den letzten Jahren erlebt habe. Und das Grauen, das einen packt, wenn man ihn sieht, ist das gleiche, das ich empfinde, seit ich weiß, was ich weiß, und nach einer Erklärung dafür suche. Wir haben über dies und das gesprochen, über die Hitze, über die politischen Zustände. Er hat mich gefragt, wie es Giulia geht, und sie beim Namen genannt. Er hat mir in keiner Weise gedroht. Er hat nur den Namen meiner Tochter genannt. Ich wäre am liebsten abgehauen, und das wusste er genau. Er lächelte. Ich habe Adriano nicht davon erzählt, er hätte mir nahegelegt, die Finger davon zu lassen, aber das will und kann ich nicht. Nicht jetzt, wo wir Solara so nahe sind.
Der Werwolf.
Bald darauf hat Daniele mir diese Zeilen zu lesen gegeben, und als ich begriffen habe, worum es darin geht, kam ich
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