Bleiernes Schweigen
herunter. Ganz langsam. Bis nach unten.
Dann hört er das Geräusch.
Er bleibt reglos, die Hand umklammert das Metall und hält es heruntergedrückt.
Ein Schritt, über ihm. Er erscheint ganz nah, zu nah.
Noch ein Schritt. Noch näher. Weiter weg. Stille. Eine Sekunde. Eine Stunde. Ein Jahr. Eine Ewigkeit. Er sieht ihn vor der Kammer stehen und lauschen.
Warten.
Dann geht er. Eine Tür öffnet sich, ein Motor in der Ferne.
Die Nacht senkt sich wieder herab.
Leise tappt er nach oben. Alles ist so, wie er es verlassen hat.
Er schließt die Tür ab, löscht das Licht, geht ins Wohnzimmer und holt das Taschenbuch, das er gerade liest.
Mitten im Zimmer bleibt er stehen und lächelt.
Die Zigarre liegt neben dem Aschenbecher. Eine Montecristo auf einem Blatt Papier. Eine gerade, nüchterne Handschrift. Drei Worte. Für die Störung.
Die Luft ist schwarz. Kein Raum, keine Form, keine Farbe.
Nur der Lichtkegel der Taschenlampe, der Geruch des fernen Meeres, die hörbare Gegenwart irgendwelcher Tiere. Ratten, nehme ich an.
Ich gehe und würde am liebsten rennen. Ich gehe und würde am liebsten sofort diesem Gefängnis aus Nichts entfliehen, von dem ich weder weiß, wo es ist, noch wohin es mich führt.
Es ähnelt der Welt, in der ich lebe. Vergessene Geschichten, die aus der Finsternis hervorbrechen, seit langem begrabene Fetzen Wirklichkeit, die ein immer größeres und dennoch klares Bild ergeben. In der Welt, die vor meinen Augen entsteht, scheinen die Grenzen sich aufgelöst zu haben, und selbst Kämpfen bekommt eine neue Bedeutung.
Eine zum Scheitern verurteilte Grundsatzschlacht. Wenn der Feind derjenige ist, der ihn bekämpfen sollte, ist ein Sieg ausgeschlossen. Was bleibt, ist das Erzählen, die Notwendigkeit, dem Dunkel die Konturen zu entreißen, Zentimeter für Zentimeter, was ungefähr genauso irrwitzig ist, wie das Meer mit einem Eimer zu leeren.
Ich verlasse den Tunnel.
Schalte die Taschenlampe aus. Es ist Nacht, der Mond steht am Himmel, mein Herz dröhnt in den Ohren, und das Meer erscheint grau.
Ich blicke mich um. Das Haus ist weit weg, die Lichter brennen noch, die einzigen Geräusche, die ich höre, sind mein angstvoller Atem und das Rauschen der Wellen.
Ich sinke auf die Knie, grabe die Hände in den Sand, senke den Kopf und schließe die Augen.
Ich bin müde.
Ich denke daran, was Di Donna über seinen Vater gesagt hat, an Elenas Notizen, an die mit Daniele verbrachten Stunden. Und zum ersten Mal wird mir klar, dass ich einen Weg erkennen kann. Eine Spur, die sich bislang nur erahnen lässt und die von weither kommt. Sie kreuzt die Geschichten von Patrizio Benetti und Alessandro Di Donna, den Tod Giovanni Falcones und Paolo Borsellinos, die Bomben von 1993, den Unfall, in dem Elena zu Tode gekommen ist, und führt bis zu Michela und Ariannas Verschwinden.
Eine Straße der Verbohrtheit und Besessenheit, der Fragezeichen und des Todes, der unnennbaren Zusammenhänge und verborgenen Freundschaften, der Verbindungen, die keiner zugibt, doch die meisten begehren.
Anche se allora vi siete assolti, siete lo stesso coinvolti – Auch wenn ihr euch damals freigesprochen habt, steckt ihr dennoch mit drin.
Das Lied von De André kommt mir wie von allein in den Sinn, ebenfalls eine ferne Erinnerung, die auf den ersten Blick nichts mit dem zu tun hat, was mir gerade widerfährt, doch das täuscht. Ich öffne die Augen und rappele mich hoch.
Folge dem Geld. Folge dem Geld.
Ich gehe zum Ufer hinunter, die Lichter im Haus verlöschen, ich kehre um und wandere zur Straße. Eine halbe Stunde später habe ich mein Ziel erreicht. Unter der Dusche sehe ich den Sand im Abfluss verschwinden, rieche den Duft des Duschgels und versuche wieder Kontakt mit der Wirklichkeit aufzunehmen.
Mit der Gegenwart, dem Hier und Jetzt.
Es ist unmöglich. Ich schlafe einen gleichmäßigen, vor flüchtigen Bildern berstenden Schlaf. Ich bleibe im Bett, bis ich nicht mehr liegen kann, und beginne den Tag, wie ich den letzten beschlossen habe: laues Wasser auf der Haut, die Gewissheit, allein zu sein, niemandem trauen zu können, jedem trauen zu müssen.
Mit der Insel hat sich alles geändert. Wieder einmal.
Der Regen kommt ganz plötzlich.
Ich bemerke ihn, als ich aus der Dusche trete. Das Licht schwindet, die Tropfen zersetzen die Stille, zuerst vereinzelt und dann immer dichter. Durch das Küchenfenster sieht das Meer schwarz aus. Ich betrachte es gedankenverloren, die Hände in den Hosentaschen vergraben
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