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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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mir saublöd vor.
    Ich sehe sie noch vor mir. Auf dem Teppich, den Rücken ans Sofa gelehnt, die Beine verschränkt und das Buch vor den Augen. Dieses Buch, das ich nie gelesen habe, weil ich es bereits auswendig kannte. Jeden Abend hat Elena mir ein Stück daraus erzählt. Sie tat es, als wäre es eine wahre Geschichte, voller Begeisterung und Neugierde verfolgte sie den von Thomas Harris erdachten Fall und mutmaßte, was auf den nächsten Seiten wohl passieren würde und ob Will Graham – der Held – die Last seiner Entdeckungen ertragen könnte.
    Red Dragon , so der Originaltitel.
    Der Große Rote Drache und die Frau, mit der Sonne bekleidet. Das Bild von William Blake, von dem sich der Serienkiller Francis Dolarhyde leiten lässt. Das durch die Hasenscharte entstellte Gesicht. Der Mann, der im Roman von den Zeitungen als Werwolf bezeichnet wird.
    In den Notizen meiner Frau ist der Werwolf kein Serienmörder. Zumindest nicht im wörtlichen Sinne, denn er taucht jedes Mal auf, wenn jemand stirbt oder zu sterben droht. Vorher, nachher oder währenddessen.
    In Addaura zum Beispiel, am Tag des Attentats auf Falcone.
    Elena nennt ihn genau so, den Werwolf.
    Für die Zeugen, die ihn gesehen haben, für die Gerichtsakten, für die wenigen, die den Mut hatten, darüber zu sprechen, ist er der Mann mit dem Monstergesicht.
     
    Marco Di Donna verharrt reglos wie eine Eidechse. Er hat keine Angst, ist nicht überrascht.
    Er horcht. Sieht mich an, streckt eine Hand aus, die Handfläche nach vorn gerichtet.
    »Halt«, formen seine Lippen.
    Die Schritte über uns werden rascher. Es gibt keinen anderen Laut. Wer auch immer dort oben ist, er wühlt nicht herum. Er geht umher. Sieht sich um. Suchend. Abwartend.
    Eine mir endlos erscheinende Weile rühren wir uns nicht, dann nähert sich Di Donna. Ohne mich zu berühren, flüstert er mir ins Ohr.
    »Neben der Bar ist eine Tür. Sie führt ins Gästeklo. Dort eine weitere, hinter der der Tunnel liegt. Daneben hängt eine Taschenlampe. Niemand weiß, dass es den Tunnel gibt. Er kommt neben einem Strand raus, von dort aus sind es ein paar Kilometer bis zum Haus. Alles klar?«
    Ich nicke. Er bedeutet mir zu gehen.
    Ich öffne die Tür. Auf der Schwelle drehe ich mich um. Er sieht mir prüfend nach. Einen kurzen Moment blicken wir uns in die Augen, dann schlüpfe ich ins Bad. Zwei Minuten später werde ich von der Dunkelheit verschluckt.
     
    Marco Di Donna sieht auf die Uhr und wartet.
    Seit ein paar Minuten ist es oben wieder still. Dennoch traut er der Sache nicht.
    Er hat sich die Schuhe ausgezogen und ist langsam zum Sofa geschlichen. Die Wartezeit könnte lang werden. Einen Moment lang hatte er den Eindruck, es könnte sich um zwei Eindringlinge handeln, dann hatte er geglaubt, er wäre wieder allein. Ein Irrtum.
    Er stellt sich zwei Männer vor. Einer bleibt draußen, der andere kommt herein. Das Haus ist erleuchtet, sie wähnen ihn darin, sie öffnen die Tür, hören die Stimmen. Weit entfernt, kaum hörbar, aber da.
    Der Typ, der eintritt, hört sie. Den Wortlaut kann er nicht verstehen, das ist unmöglich. Und auch nicht, wer spricht. Doch er weiß, dass jemand da ist. Wo, lässt sich schon schwieriger sagen.
    Dann ist alles still. Der Mann setzt sich in Bewegung, macht dem draußen Wartenden ein Zeichen. Vielleicht eine gängige Geste, um ihm zu verstehen zu geben, dass irgendwo jemand ist. Der andere kommt herein. Sie machen eine Runde durchs Haus. Gehen wieder.
    Jetzt stellt er sich einen einzelnen Mann vor.
    Er tut haargenau das Gleiche, tritt ein, hört die Stimmen, sucht sie, findet sie nicht. Auch er ist nicht allein. Da ist noch jemand. Sein Chef vielleicht. Er w artet draußen darauf, dass der Handlanger seine Arbeit tut und den Hausherrn unschädlich macht. Vielleicht ist er gekommen, um zu reden, nicht, um zu töten. Vielleicht ist er einer von denen, die ihn in all den Jahren immer wieder aufgesucht haben, Tag und Nacht, um klarzustellen, wer am längeren Hebel sitzt und wer den dicksten Schwanz hat.
    Oder einer von denen, die feststellen mussten, dass es im Haus nichts zu holen gibt. Keinerlei Unterlagen, die ein x-beliebiger Dieb oder ein gewiefter Bulle bei einer Durchsuchung finden könnte.
    Den Feind zu unterschätzen ist ein Fehler, den er allzu oft gemacht hat.
    Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht und steht auf. Auf Strümpfen schleicht er zur Tür, die nach oben führt.
    Er wartet. Lauscht. Stille. Er legt die Hand auf die Klinke, drückt sie

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