Bleiernes Schweigen
Zeit verstrichen und hat mich abgehängt.
Ich fahre mit dem Finger über den Stick, den mir Adriano geschenkt hat. Die Tage, die ich nicht gelebt habe, stecken in einem kaum fingergroßen Plastikstift. Ich schlucke Trauer, Wut und Reue hinunter. Dann hole ich tief Luft und fange an aufzuräumen. Als ich fertig bin, fühle ich mich nicht besser, aber zumindest habe ich den Eindruck, an einem zivilen Ort zu leben.
Ich gehe aus dem Haus, kaufe die Zeitung, widerstehe der Versuchung, beim Tabakladen vorbeizugehen und die erste Zigarette seit einer Ewigkeit zu rauchen. Auf dem Rückweg drehe ich eine große Runde um den Block, in der Hoffnung, der Höllenkreis, in den sich meine Gedanken verwandelt haben, könnte plötzlich einen Sinn ergeben.
Als ich wieder zu Hause bin, esse ich ein paar Spaghetti, räume die Küche auf, höre schließlich auf so zu tun, als sei es ein stinknormaler Tag, und mache da weiter, wo ich aufgehört habe.
Der Großteil der Unterlagen meiner Frau betrifft vier Themen.
Rosario Curatolo. Die Rolle des Staates bei den Attentaten. Die Suche nach der Identität von Ignazio Solara. Das Material, das Ende März 1993 bei der Verhaftung eines weiteren Top-Mafioso, Donato Patti, gefunden wurde.
Zumeist sind es lose Zettel, Zeitungsartikel, Notizen, sich häufig wiederholende Fragen, auf die sich nur schwer eine Antwort finden lässt, wenn man nicht weiß, worauf sie sich beziehen. Fast ein Jahr ihres Lebens haben meine Frau und mein Vater mit Ermittlungen verbracht. Ich wüsste nicht, wie ich es sonst nennen soll.
Es ist keine journalistische Recherche, eher eine polizeiliche Untersuchung. Und jetzt, wo ich Nächte damit zugebracht habe, mir einen Reim darauf zu machen, merke ich, dass die Geheimhaltung dessen, woran sie arbeiteten, unumgänglich war.
Ich sehe vom Bildschirm hoch. Auf dem Regal hinten im Wohnzimmer steht ein Foto von uns dreien. Giulia ist noch sehr klein, Elena hat wahnsinnig lange Haare, fast bis zum Po, und meine hatten noch nicht angefangen, dünn zu werden. Oder ich hab’s nicht bemerkt.
Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag es entstanden ist, und auch nicht wo, auf dem Foto kann man es nicht erkennen. Es gibt nur wenige Bilder von uns dreien zusammen, die Zeit war zu kurz.
Und jetzt muss ich mich fragen, ob das, was ich gerade gelesen habe, sie uns gestohlen hat. Und ob die Entscheidung meines Vaters, nicht mehr für die Zeitung zu schreiben und sich stattdessen der Lehrtätigkeit und dem Verfassen gut bezahlter politischer Hintergrundberichte zu widmen, nicht unmittelbar mit diesen Papieren zu tun hat, diesen Fragmenten eines Lebens, von dem ich nicht ahnte, es gelebt zu haben.
Der Gedanke lässt mich nicht los, ich kann und will ihn nicht loswerden und kann ihm nur beikommen, wenn ich mir darüber klarwerde, was in jenem Sommer sowie dem darauffolgenden Winter und Frühjahr passiert ist.
Ich stehe auf, setze einen Kaffee auf und warte stumm, bis er in der Maschine hochsteigt. Ich schalte den Fernseher an. Von den Nachrichten bekomme ich nur einen Bruchteil mit. Dann kehre ich zum Computer zurück, stelle den Kaffee ab und suche im Netz. Ich finde sie sofort. Lese zweimal, um sicherzugehen, dass der Wahnsinn, in den ich hineingeraten bin, mir nicht das Hirn weichgekocht hat.
Ich trinke aus, gehe wieder in die Küche, wasche die Tasse und die Espressomaschine ab.
Kehre zu Elenas Notizen zurück.
Rosario Curatolo wird am 26. September 1992 verhaftet. Die Anschuldigung lautet mehrfacher Mord. Unpassend , schreibt Elena neben seinen Namen. Dann zitiert sie den Satz des Leitenden Oberstaatsanwalts von Caltanissetta: Wir haben objektive Beweise, es interessiert uns nicht, ob es sich scheinbar um einen Kleinkriminellen handelt. Sie unterstreicht ihn und versieht ihn mit einem riesigen Fragezeichen. Daneben schreibt sie knapp: Die Staatsanwälte glauben ihm nicht.
Auch die Frau glaubt nicht an Curatolos Schuld und protestiert zusammen mit dem ganzen Viertel. Sie behauptet, er würde im Gefängnis von Pianosa geschlagen, damit er den Mund aufmacht, er würde gefoltert, mit eiskaltem Wasser begossen, er müsse Würmer essen und bekomme Spritzen mit infiziertem Blut unter die Nase gehalten, sie würden ihn zwingen, die Aussageprotokolle auswendig zu lernen und bläuten ihm ein, was er im Gerichtssaal zu sagen habe. Man tut sich schwer, ihm zu glauben, als er ein Jahr nach seiner Verhaftung gesteht. Zuerst einem Zellengenossen und dann, noch ein Jahr später, den
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